Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Fluss verändert sich dauernd. Das heißt aber nicht, dass du nicht über diesen Fluss sprechen kannst. Nur kannst du nicht fragen, wo im Tal der Fluss am ›echtesten‹ Fluss ist.«
»Nein, denn der Fluss ist überall gleich Fluss.«
»Für Hegel war die Geschichte ein solcher Flusslauf. Noch die kleinste Bewegung im Wasser an einem bestimmten Punkt im Fluss wird in Wirklichkeit vom Fall des Wassers und den Wasserwirbeln weiter oben im Fluss bestimmt. Aber wichtig ist auch, welche Steine und Biegungen es im Fluss an der Stelle gibt, wo du stehst und ihn betrachtest.«
»Ich glaube, ich verstehe.«
»Auch die Geschichte des Denkens – oder der Vernunft – ist wie ein solcher Flusslauf. Er enthält alle Gedanken, die Generationen von Menschen vor dir gedacht haben und die dein Denken genauso bestimmen wie die Lebensbedingungen deiner eigenen Zeit. Du kannst deshalb nicht behaupten, ein bestimmter Gedanke sei für immer und ewig richtig. Aber dieser Gedanke kann da, wo du stehst, richtig sein.«
»Das heißt aber wohl nicht, dass alles gleich falsch ist – oder alles gleich richtig?«
»Nein, aber etwas kann nur im Verhältnis zu einem historischen Zusammenhang falsch oder richtig sein. Wenn du im Jahre 1990 für die Sklaverei argumentierst, dann machst du dich bestenfalls lächerlich. Vor 2500 Jahren war es nicht so lächerlich. Obwohl schon damals fortschrittliche Stimmen für die Aufhebung der Sklaverei plädierten. Aber wir können ein näher liegendes Beispiel nehmen. Vor nur hundert Jahren war es noch nicht unvernünftig, große Waldgebiete abzufackeln, um Ackerland zu gewinnen. Aber heute ist das entsetzlich unvernünftig. Wir haben ganz andere – und bessere – Voraussetzungen für eine solche Bewertung.«
»Das habe ich jetzt begriffen.«
»Auch die Vernunft, sagt Hegel, ist etwas Dynamisches – ja, ein Prozess. Und die ›Wahrheit‹ ist nichts anderes als dieser Prozess. Es gibt nämlich keine Kriterien außerhalb des historischen Prozesses, die entscheiden könnten, was am wahrsten oder vernünftigsten ist.«
»Beispiele bitte.«
»Du kannst dir nicht verschiedene Gedanken aus der Antike oder dem Mittelalter, der Renaissance oder der Aufklärung vornehmen und sagen, das war richtig und das falsch. Deshalb kannst du auch nicht sagen, dass Platon sich irrte, oder dass Aristoteles Recht hatte. Du kannst auch nicht sagen, dass Hume sich irrte, während Kant oder Schelling Recht hatten. Das ist eine unhistorische Denkweise.«
»Klingt nicht gut, finde ich.«
»Du kannst eben, meint Hegel, keine Philosophie und keinen Gedanken aus dem historischen Zusammenhang reißen. Aber – und jetzt nähere ich mich einem neuen Punkt: Weil den Menschen immer wieder Neues einfällt, ist die Vernunft ›progressiv‹. Das heißt, die menschliche Erkenntnis schreitet immer weiter fort und mit der Menschheit insgesamt geht es entsprechend ›vorwärts‹.«
»Wonach Kants Philosophie vielleicht doch ein bisschen richtiger wäre als die Platons?«
»Ja. Der ›Weltgeist‹ hat sich in der Zeit zwischen Platon und Kant weiterentwickelt. Wenn wir zu unserem Bild vom Fluss zurückkehren, kannst du sagen, dass er jetzt mehr Wasser führt. Es sind inzwischen ja auch über zweitausend Jahre vergangen. Kant darf sich nur nicht einbilden, dass seine ›Wahrheiten‹ wie unverrückbare Steine am Ufer liegen bleiben werden. Auch seine Gedanken sind nicht der Weisheit letzter Schluss und schon die nächste Generation wird sie nach Kräften kritisieren. Genau das ist dann ja auch passiert.«
»Aber dieser Fluss, von dem du redest ...«
»Ja?«
»Wohin fließt der denn?«
»Hegel hat erklärt, dass sich der Weltgeist auf ein immer größeres Bewusstsein seiner selbst zubewegt. Flüsse werden ja auch immer breiter, je näher sie dem Meer kommen. Hegel zufolge geht es in der Geschichte darum, dass der Weltgeist langsam zum Bewusstsein seiner selbst erwacht. Die Welt war ja schon immer da, aber durch die Kultur und Entfaltung des Menschen wird sich der Weltgeist seiner Eigenart immer bewusster.«
»Wie konnte er sich da so sicher sein?«
»Er hielt das für eine nachweisbare Tatsache, also keineswegs für eine bloße Prophezeiung. Wer die Geschichte studiere, meinte er, dem werde klar, dass die Menschheit sich auf immer größere Selbsterkenntnis und Selbstentfaltung zubewege. Die Geschichte zeige eine eindeutige Entwicklung hin zu immer mehr Rationalität und Freiheit . Natürlich mache sie auch allerlei Bocksprünge,
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