Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
wollten.
»Papa hat mir gewissermaßen das Versprechen abgenommen, dass ich das Buch gelesen habe, wenn er kommt.«
»Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll. Dass er so oft weg ist, ist eine Sache – aber dass er aus der Ferne dirigieren will, was hier zu Hause passiert ...«
»Wenn du wüsstest, was er noch alles dirigiert«, sagte Hilde geheimnisvoll. »Und du kannst dir ja denken, wie sehr er das genießt.«
Dann ging sie auf ihr Zimmer und las weiter.
Plötzlich hörte Sofie, dass jemand an die Tür klopfte. Alberto warf ihr einen strengen Blick zu.
»Wir lassen uns nicht stören.«
Es klopfte heftiger.
»Ich werde dir von einem dänischen Philosophen erzählen, der sich sehr über Hegels Philosophie geärgert hat«, sagte Alberto.
Aber jetzt klopfte es so heftig, dass die Tür bebte.
»Natürlich hat uns der Major wieder irgendeine phantastische Person geschickt, um zu sehen, ob wir ihm auf den Leim gehen«, erklärte Alberto. »Das kostet ihn ja nichts.«
»Aber wenn wir nicht aufmachen und nachsehen, wer da ist, kostet es ihn auch nichts, das ganze Haus einzureißen.«
»Vielleicht hast du Recht. Also machen wir auf.«
Sie gingen zur Tür. Weil es so heftig geklopft hatte, erwartete Sofie einen Riesen. Aber draußen stand nur ein kleines Mädchen in einem geblümten Kleid und mit langen blonden Haaren. Sie hatte zwei kleine Flaschen in den Händen. Eine war rot, die andere blau.
»Hallo«, sagte Sofie. »Wer bist du denn?«
»Ich heiße Alice«, sagte das Mädchen und machte einen verlegenen Knicks.
»Hab ich’s mir doch gedacht«, nickte Alberto. »Das ist Alice im Wunderland.«
»Aber wie hat sie hergefunden?«
Alice antwortete selber:
»Das Wunderland ist ein absolut grenzenloses Land. Das bedeutet, es ist überall – ungefähr wie die UNO. Das Wunderland sollte deshalb Ehrenmitglied der UNO werden. Wir müssten in allen Komitees eigene Vertreter haben.«
»Hach – der Major!«, sagte schmunzelnd Alberto.
»Und was führt dich her?«, fragte Sofie.
»Ich soll dir diese Philosophiefläschchen geben.«
Sie reichte Sofie die kleinen Flaschen. Beide waren aus blankem Glas, aber in der einen befand sich eine rote Flüssigkeit, in der anderen eine blaue. Auf der roten Flasche stand: TRINK MICH!, auf der blauen: TRINK MICH AUCH!
Im nächsten Moment kam ein weißes Kaninchen an der Hütte vorübergerannt. Es ging aufrecht auf zwei Beinen und trug Weste und Jacke. Vor der Hütte zog es eine Taschenuhr aus der Weste und sagte: »Nein, ach, nein, jetzt komme ich zu spät.«
Und dann rannte es wieder los. Alice lief hinter ihm her. Im Loslaufen machte sie noch einen Knicks und sagte:
»Jetzt geht das wieder los!«
»Du musst Dina und die Königin grüßen!«, rief Sofie ihr nach.
Und damit war Alice verschwunden. Alberto und Sofie blieben auf der Treppe stehen und betrachteten die Flaschen.
»TRINK MICH! und TRINK MICH AUCH!«, las Sofie vor. »Ich weiß nicht, ob ich mich traue. Vielleicht ist es Gift.«
Alberto zuckte mit den Schultern.
»Die Flaschen kommen vom Major und alles, was vom Major kommt, ist nur Bewusstsein. Wir haben es also mit Gedankensaft zu tun.«
Sofie zog den Korken aus der roten Flasche und setzte sie vorsichtig an den Mund. Der Saft schmeckte süß und seltsam, aber das war nur das eine; gleichzeitig geschah etwas mit der ganzen Welt um sie herum: Erst schienen ihr die Bilder des Sees, des Waldes und der Hütte in eines zusammenzulaufen. Dann schien Sofie auch nur noch eine Person zu sehen, und diese Person war sie selber. Als sie schließlich einen Blick auf Alberto warf, schien auch der ein Teil ihrer selbst geworden zu sein.
»Komisch«, sagte sie. »Auf einmal scheint alles, was ich sehe, zusammenzuhängen. Ich habe das Gefühl, dass alles nur noch ein Bewusstsein ist.«
Alberto nickte – aber Sofie hatte das Gefühl, sich selber zuzunicken.
»Das ist der Pantheismus oder die Einheitsphilosophie«, sagte Alberto. »Das ist der Weltgeist der Romantiker. Sie haben alles als ein einziges großes ›Ich‹ erlebt. Es ist auch Hegel – der einerseits das einzelne Individuum nicht ganz aus den Augen verlor und andererseits alles als den Ausdruck der einen Weltvernunft auffasste.«
»Soll ich auch aus der anderen Flasche trinken?«
»Das steht ja darauf.«
Sofie zog auch aus der blauen Flasche den Korken und trank einen großen Schluck. Dieser Saft schmeckte etwas frischer und säuerlicher als der rote. Aber auch jetzt geschah mit allem um sie herum
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