Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
eine plötzliche Veränderung: Innerhalb einer Sekunde verschwand die Wirkung des roten Getränks; und alles erhielt wieder seinen alten Platz. Alberto wurde wieder Alberto, die Bäume im Wald wurden wieder Bäume im Wald und der See sah wieder aus wie ein kleiner Weiher. – Doch auch das dauerte nur eine Sekunde, dann glitt alles, was Sofie sah, auseinander. Der Wald war kein Wald mehr; noch der kleinste Baum erschien ihr plötzlich als eine Welt für sich, noch der kleinste Zweig als ein Abenteuer, über das tausend Märchen erzählt werden konnten. Der kleine See erschien ihr als ein unendliches Meer – nicht weil er so tief oder groß gewesen wäre, sondern wegen seiner Milliarden glitzernder Details und ausgeklügelter Wellen. Sofie begriff, dass sie für den Rest ihres Lebens nur noch diesen einen See betrachten könnte – und dennoch würde er ihr immer als ein unergründliches Mysterium erscheinen.
Sofie hob den Blick zu einer Baumkrone. Dort spielten drei kleine Spatzen ein lustiges Spiel. Sie hatten zwar auch schon im Baum gesessen, als Sofie aus der roten Flasche getrunken hatte, aber wirklich gesehen hatte Sofie sie nicht. Die rote Flasche hatte alle Gegensätze und alle individuellen Unterschiede verwischt.
Jetzt stieg Sofie von der Steinplatte, auf der sie stand, und kniete sich ins Gras. Und auch dort entdeckte sie eine neue Welt – ungefähr so, als wäre sie tief getaucht und öffnete auf dem Meeresgrund zum ersten Mal die Augen. Zwischen Grasbüscheln und Halmen wimmelte es von Lebewesen. Sofie sah eine Spinne, die sicher und energisch durchs Moos kroch, eine rote Blattlaus, die an einem Grashalm auf und ab sauste, und ein ganzes kleines Ameisenheer bei der gemeinsamen Arbeit. Aber auch jede einzelne Ameise hob auf ihre je eigene Art die Beine.
Das Seltsamste jedoch geschah, als Sofie wieder aufstand und Alberto ansah, der immer noch auf der Türschwelle stand. Plötzlich sah sie in ihm ein ganz außergewöhnliches Wesen, etwas wie einen Menschen von einem anderen Planeten vielleicht – oder wie eine Märchengestalt aus einem anderen Märchen als dem, das sie gerade erlebte. Und zugleich erlebte sie auch sich selber auf eine ganz neue Weise als einzigartige und außergewöhnliche Person: Sie war nicht nur ein Mensch, sie war nicht nur eine Fünfzehnjährige – sie war Sofie Amundsen und nur sie war das!
»Was siehst du?«, fragte Alberto.
»Ich sehe, dass du ein komischer Vogel bist.«
»Wirklich?«
»Ich glaube, ich werde nie verstehen, wie es ist, ein anderer Mensch zu sein. Keine zwei Menschen auf der ganzen Welt sind doch ganz gleich.«
»Und der Wald?«
»Der hängt nicht mehr zusammen. Er ist ein ganzes Universum aus lauter erstaunlichen Märchen.«
»Hab ich’s mir doch gedacht. Die blaue Flasche ist der Individualismus. Er war Sören Kierkegaards Reaktion auf die Einheitsphilosophie der Romantik. Und Kierkegaards Zeitgenosse war nicht zufällig der Märchendichter Hans Christian Andersen. Er hatte denselben scharfen Blick für den unendlichen Detailreichtum der Natur. Leibniz hatte ihn hundert Jahre früher auch schon besessen und auf Spinozas Einheitsphilosophie genauso reagiert wie Kierkegaard auf Hegel.«
»Ich höre, was du sagst, aber du kommst mir gleichzeitig so komisch vor, dass ich losprusten könnte.«
»Ich verstehe. Dann trink einfach noch einen kleinen Schluck aus der roten Flasche. Und dann setzen wir uns hier auf die Treppe. Wir müssen noch etwas über Kierkegaard sagen, ehe wir für heute Schluss machen.«
Sie setzten sich und Sofie trank einen kleinen Schluck aus der roten Flasche. Nun flossen die Dinge wieder zusammen, allerdings ein bisschen zu sehr, denn wieder hatte Sofie das Gefühl, dass kein Unterschied mehr irgendeine Rolle spielte. Sie berührte schnell den Hals der blauen Flasche mit der Zunge und die Welt wurde ungefähr so, wie sie gewesen war, bevor Alice die beiden Flaschen gebracht hatte.
»Aber was ist wahr ?«, fragte Sofie nun. »Verschafft uns die rote oder die blaue Flasche das richtige Erlebnis davon, wie die Welt wirklich ist?«
»Beide, Sofie. Wir können nicht sagen, dass sich die Romantiker geirrt haben. Aber vielleicht waren sie ein bisschen einseitig.«
»Was ist mit der blauen Flasche?«
»Ich glaube, aus der hatte Kierkegaard ein paar ganz tiefe Schlucke getrunken. Er hatte jedenfalls ein überaus scharfes Auge für die Bedeutung des Individuums. Wir sind aber auch nicht nur ›Kinder unserer Zeit‹. Jeder und jede von
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