Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
In der Sklavengesellschaft der Antike gab es den Widerspruch zwischen den freien Bürgern und den Sklaven, in der Feudalgesellschaft des Mittelalters den zwischen Feudalherren und Leibeigenen und später zwischen Adeligen und Bürgern. Aber zu Marx’ eigener Zeit, in einer, wie er sagt, bürgerlichen oder kapitalistischen Gesellschaft , sah er den Widerspruch vor allem zwischen Kapitalisten und Arbeitern oder Proletariern – also denen, die Produktionsmittel besitzen, und denen, die keine besitzen. Und weil die Oberklasse ihre Oberherrschaft niemals freiwillig aufgebe, könne nur durch eine Revolution eine Veränderung herbeigeführt werden.«
»Wie ist es mit der kommunistischen Gesellschaft?«
»Marx beschäftigte vor allem die Frage des Übergangs von der kapitalistischen zu einer kommunistischen Gesellschaft . Er führt dazu eine detaillierte Analyse der kapitalistischen Produktionsweise durch. Aber ehe wir uns die ansehen, müssen wir noch etwas zu seinen Ansichten über die menschliche Arbeit sagen.«
»Also los.«
»Ehe er Kommunist wurde, hatte der junge Marx sich dafür interessiert, was eigentlich mit den Menschen geschieht, wenn sie arbeiten. Auch Hegel hatte das analysiert und eine Wechsel-, eine ›dialektische‹ Beziehung zwischen Mensch und Natur gesehen. So auch der junge Marx: Wenn der Mensch die Natur bearbeitet, dann wird der Mensch auch selber bearbeitet. Oder, etwas anders ausgedrückt: Wenn der Mensch arbeitet, greift er in die Natur ein und prägt sie; aber in diesem Arbeitsprozess greift auch die Natur in den Menschen ein und prägt sein Bewusstsein.«
»Sag mir, welche Arbeit du hast, und ich sage dir, wer du bist.«
»Genau. Marx meinte: Wie wir arbeiten, prägt unser Bewusstsein, aber unser Bewusstsein prägt auch die Art und Weise, wie wir arbeiten. Du kannst sagen, dass eine Wechselbeziehung zwischen ›Hand‹ und ›Kopf‹ besteht. Auf diese Weise hängt die Erkenntnis des Menschen eng mit seiner Arbeit zusammen.«
»Dann muss es ganz schön schlimm sein, arbeitslos zu sein.«
»Ja, wer keine Arbeit hat, hängt irgendwie in der Luft. Das hat schon Hegel betont. Für Hegel und Marx ist die Arbeit etwas Positives, etwas, das zum Menschsein dazugehört.«
»Dann muss es doch auch positiv sein, Arbeiter zu sein?«
»Im Grunde ja. Aber gerade da setzt Marx’ vernichtende Kritik der kapitalistischen Produktionsweise an.«
»Erzähl!«
»Im kapitalistischen System arbeitet der Arbeiter für einen anderen. Und so wird die Arbeit etwas außerhalb seiner selbst – oder etwas, das nicht ihm gehört. Der Arbeiter wird seiner eigenen Arbeit fremd – und damit auch sich selber. Er verliert seine Menschenwürde. Marx spricht mit einem hegelschen Ausdruck von Entfremdung .«
»Ich habe eine Tante, die seit über zwanzig Jahren in einer Fabrik Pralinen verpackt, und deshalb verstehe ich sofort, was du meinst. Sie sagt, dass sie fast jeden Morgen den Gang zur Arbeit hasst.«
»Und wenn sie ihre Arbeit hasst, Sofie, dann muss sie irgendwie auch sich selber hassen.«
»Sie hasst jedenfalls Pralinen.«
»In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeit so organisiert, dass ein Arbeiter in Wirklichkeit für eine andere Gesellschaftsklasse Sklavenarbeit verrichtet. Auf diese Weise ›entäußert‹ der Arbeiter nicht nur seine eigene Arbeitskraft, sondern sein gesamtes menschliches Dasein.«
»Ist es wirklich so schlimm?«
»Wir reden jetzt davon, wie Marx die Dinge sah. Deshalb müssen wir den Ausgang auch von den Verhältnissen in den europäischen Gesellschaften um 1850 nehmen. Und da muss die Antwort ein lautes, deutliches Ja sein. Arbeiter hatten oft einen Vierzehnstundentag in eiskalten Fabrikhallen. Die Bezahlung war oft so schlecht, dass auch Kinder und Wöchnerinnen arbeiten mussten. Das führte zu unbeschreiblichen sozialen Verhältnissen. Oft wurde ein Teil des Lohns in Form von billigem Schnaps bezahlt und viele Frauen mussten sich prostituieren. Ihre Kunden waren dann die besseren Herren der Stadt. Kurz gesagt: Genau das, was Adelszeichen des Menschen sein sollte, die Arbeit also, machte den Arbeiter zum Tier.«
»So was macht mich wütend.«
»Marx ging das auch so. Gleichzeitig konnten die Kinder des Bürgertums nach einem erfrischenden Bad in großen, warmen Zimmern Geige spielen. Oder sie konnten sich vor einem leckeren Mittagessen mit vier Gängen ans Klavier setzen. Allerdings spielten sie oft auch abends nach einem längeren Ausritt Geige und
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