Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
gehabt. Andererseits müssen wir uns davor hüten, alles, was nach ihm als ›marxistisch‹ bezeichnet wurde, mit seinem eigenen Denken zu identifizieren. Von Marx selber heißt es, dass er um 1845 zum ›Marxisten‹ wurde; aber er mochte die Bezeichnung zeitlebens nicht.«
»War Jesus ein Christ?«
»Auch darüber ließe sich diskutieren.«
»Erzähl weiter.«
»Gleich von Anfang an trug sein Freund und Kollege Friedrich Engels zu dem bei, was später Marxismus genannt wurde. In unserem Jahrhundert haben Lenin, Stalin, Mao und viele andere den Anspruch erhoben, den Marxismus weiterentwickelt zu haben. In den östlichen Ländern sprach man nach Lenin vom ›Marxismus-Leninismus‹.«
»Dann schlage ich vor, dass wir uns an Marx selber halten. Du hast ihn einen ›historischen Materialisten‹ genannt?«
»Er war kein philosophischer Materialist wie die Atomisten der Antike und die mechanischen Materialisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Aber er war der Ansicht, dass vor allem die materiellen Lebensbedingungen in einer Gesellschaft unser Denken und unser Bewusstsein bestimmen. Diese materiellen Verhältnisse sind ihm zufolge auch ausschlaggebend für die historische Entwicklung.«
»Das klingt tatsächlich anders als bei Hegel mit seinem Weltgeist.«
»Hegel hatte erklärt, die historische Entwicklung entstehe aus der Spannung zwischen Gegensätzen, die durch eine plötzliche Veränderung verschwänden – und mit ihnen natürlich die Spannung. Diesen Gedanken hielt Marx für richtig. Er meinte nur, der gute Hegel stelle alles auf den Kopf.«
»Doch wohl nicht das ganze Leben?«
»Hegel nannte die Kraft, die die Geschichte vorwärts treibt, ›Weltgeist‹ oder ›Weltvernunft‹. Und Marx war der Meinung, diese Sichtweise stelle die Wahrheit auf den Kopf. Er selber wollte beweisen, dass die Veränderungen der materiellen Lebensbedingungen für die Geschichte ausschlaggebend sind. Nicht die geistigen Voraussetzungen in einer Gesellschaft führten zu materiellen Veränderungen, meinte er, sondern genau umgekehrt: die materiellen Verhältnisse bestimmten in letzter Konsequenz auch die geistigen. Vor allem die wirtschaftlichen Kräfte in einer Gesellschaft seien es, die Veränderungen in allen anderen Bereichen herbeiführen und dadurch die Geschichte vorwärts treiben.«
»Weißt du kein Beispiel?«
»Die Philosophie und Wissenschaft der Antike wurden fast ausschließlich um ihrer selbst willen betrieben. Es interessierte die alten Philosophen nicht sonderlich, ob ihr theoretisches Wissen zu irgendwelchen praktischen Verbesserungen führte.«
»Ach?«
»Das hing damit zusammen, wie die Gesellschaften organisiert waren, in denen sie lebten. Das Leben und die Produktion der Lebensmittel in den antiken Gesellschaften basierten vor allem auf Sklavenarbeit. Deshalb hatten es die feinen Bürger schlicht nicht nötig, die Produktion durch praktische Erfindungen zu verbessern. – Das ist ein Beispiel dafür, wie materielle Verhältnisse in einer Gesellschaft das Denken in ihr prägen können.«
»Ich verstehe.«
»Die materiellen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in einer Gesellschaft bezeichnete Marx als deren Basis . Die Art und Weise, wie in einer Gesellschaft gedacht wird, ihre politischen Institutionen, ihre Gesetze und nicht zuletzt ihre Religion, Moral, Kunst, Philosophie und Wissenschaft nannte Marx ihren Überbau .«
»Basis und Überbau also.«
»Und jetzt kannst du mir vielleicht den griechischen Tempel geben.«
»Bitte sehr.«
»Das ist eine verkleinerte Kopie des alten Parthenon-Tempels auf der Akropolis. Du hast ihn ja auch in Wirklichkeit gesehen.«
»Auf Video, meinst du.«
»Du siehst, dass der Tempel ein wirklich elegantes und reich verziertes Dach hat. Vielleicht fallen uns zuerst das Dach und die Front des Daches auf. Und genau das könnten wir als Überbau bezeichnen. Nur kann das Dach eben nicht in der Luft schweben.«
»Es wird von den Säulen getragen.«
»Der ganze Bau braucht ein kräftiges Fundament, eine Basis, die die ganze Konstruktion trägt. Marx zufolge ›tragen‹ die materiellen Verhältnisse gewissermaßen alles, was es in der Gesellschaft an Gedanken und Ideen gibt. Das heißt, der Überbau einer Gesellschaft ist ein Reflex ihrer materiellen Basis.«
»Willst du damit sagen, dass Platons Ideenlehre nur ein Reflex der damals üblichen Töpferei und des athenischen Weinbaus war?«
»Nein, so einfach auch wieder nicht, und darauf macht Marx auch
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