Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
noch mal zurück zu dieser Sache mit der Ungerechtigkeit. Du hast gesagt, dass Marx den Kapitalismus für eine ungerechte Gesellschaft hielt. Wie würdest du eine gerechte Gesellschaft definieren?«
»Ein marxistisch inspirierter Moralphilosoph, John Rawls , hat dazu ein interessantes Gedankenspiel vorgeschlagen: Stell dir vor, du wärst Mitglied eines Hohen Rates, der alle Gesetze einer zukünftigen Gesellschaft machen soll.«
»Ich könnte mir gut vorstellen, in so einem Rat zu sitzen.«
»Sie müssen an absolut alles denken, denn sowie sie sich geeinigt – und also die Gesetze unterschrieben – haben, fallen sie tot um.«
»O Schande!«
»Und Sekunden später werden sie in genau der Gesellschaft wieder wach, deren Gesetze sie gemacht haben. Der Trick ist nur: Sie haben keine Ahnung, wo in dieser Gesellschaft sie erwachen, das heißt, was ihre Position darin sein wird.«
»Ich verstehe.«
»Eine solche Gesellschaft wäre eine gerechte Gesellschaft. Denn garantiert wäre jeder, wohin er schaut, nur unter seinesgleichen.«
»Und jede unter ihresgleichen.«
»Selbstverständlich. Denn in Rawls’ Spiel würde man – beziehungsweise frau – auch nicht wissen, ob er oder sie als Mann oder Frau wieder erwacht. Und da die Chance fünfzig zu fünfzig ist, wird die Gesellschaft für Frauen und Männer garantiert gleich gut eingerichtet sein.«
»Das klingt verlockend.«
»Nun sag mir – war Europa zu Marx’ Lebzeiten so eine Gesellschaft?«
»Nein!«
»Aber vielleicht kannst du mir heute so eine Gesellschaft nennen?«
»Tja ... das ist die Frage.«
»Du kannst dir das ja überlegen. Erst mal kommt nichts mehr über Marx.«
»Was hast du gesagt?«
»Abschnitt!«
Darwin
... ein Boot, das mit Genen beladen durchs Leben segelt ...
Am Sonntagmorgen weckte Hilde ein lauter Knall. Der Ordner war auf den Boden gefallen. Sie hatte noch spät gelesen, wie sich Sofie und Alberto über Marx unterhielten. Dann war sie auf dem Rücken, mit dem Ordner auf der Decke, eingeschlafen. Die Leselampe über dem Bett hatte die ganze Nacht gebrannt.
Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte in grünen Ziffern 8.59.
Hilde hatte von riesigen Fabriken und verrußten Großstädten geträumt. An einer Straßenecke hatte ein kleines Mädchen Streichhölzer verkauft. Gut angezogene Menschen in langen Mänteln waren achtlos vorübergegangen.
Als Hilde aufstand, fielen ihr die Gesetzesgeber ein, die in einer von ihnen selber eingerichteten Gesellschaft erwachen sollten. Hilde war froh, dass sie in Bjerkely wach wurde. Ob sie gerne in Norwegen erwachen würde, ohne zu wissen, wo genau oder wann? Im Mittelalter zum Beispiel – oder in einer Steinzeitgesellschaft vor zehntausend Jahren? Hilde versuchte sich vorzustellen, wie sie vor einem Höhleneingang saß. Vielleicht bearbeitete sie gerade ein Fell. Wie mochte eine Fünfzehnjährige überhaupt gelebt haben, bevor es so etwas wie Kultur gab? Wie würde sie denken, wenn sie diese Fünfzehnjährige wäre?
Hilde zog einen Pullover an, hob den Ordner auf und setzte sich damit ins Bett, um weiterzulesen, was ihr Vater geschrieben hatte.
Kaum hatte Alberto »Abschnitt« gesagt, als jemand an die Tür der Majorshütte klopfte.
»Wir haben wohl keine Wahl?«, fragte Sofie.
»Haben wir wohl nicht«, brummte Alberto.
Draußen stand ein uralter Mann mit sehr langen Haaren und einem Bart. In der rechten Hand hielt er einen Wanderstab, in der linken ein großes Plakat, das ein Schiff zeigte. Auf dem Schiff krabbelten Tiere in allen Größen herum.
»Und wer ist der Herr?«, fragte Alberto.
»Mein Name ist Noah.«
»Hab ich’s mir doch gedacht.«
»Dein eigener Stammvater, mein Junge. Aber es ist wohl nicht mehr modern, sich an seine Stammväter zu erinnern?«
»Was hast du da in der Hand?«, fragte Sofie.
»Ein Bild aller Tiere, die vor der großen Flut gerettet wurden. Bitte sehr, meine Tochter, das ist für dich.«
Sofie nahm das große Plakat und der alte Mann sagte:
»Und jetzt muss ich nach Hause und die Reben gießen.«
Er machte einen kleinen Sprung, schlug in der Luft die Hacken zusammen und hüpfte in den Wald, wie das nur sehr alten Männern mit sehr guter Laune möglich ist.
Sofie und Alberto gingen wieder ins Haus und setzten sich. Sofie sah sich das große Plakat an, aber sie hatte noch nicht viel gesehen, als Alberto es ihr auch schon aus den Händen riss.
»Wir wollen uns zuerst auf die großen Linien konzentrieren.«
»Also fang an.«
»Wir haben vergessen zu
Weitere Kostenlose Bücher