Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
vergeudet werden darf.«
»Aber es ist ungerecht, dass du so reich bist und die Kleine so arm«, drängte Sofie.
»Quatsch! Gerechtigkeit gibt es nur unter Gleichen.«
»Wie meinst du das?«
»Ich habe mich hochgearbeitet und Arbeit soll sich lohnen. Das nennt man Fortschritt.«
»Also echt!«
»Wenn du mir nicht hilfst, sterbe ich«, sagte das arme Mädchen.
Der Geschäftsmann schaute wieder von seinen Papieren hoch. Dann schmiss er die Feder auf den Tisch.
»Du bist eben kein Posten in meiner Buchführung. Also – mach, dass du ins Armenhaus kommst!«
»Wenn du mir nicht hilfst, stecke ich den Wald an«, erklärte das arme Mädchen.
Erst jetzt erhob sich der Mann hinter seinem Schreibtisch, aber das Mädchen hatte bereits ein Streichholz angezündet. Sie hielt es an einige ausgedörrte Grasbüschel, die sofort aufloderten.
Der reiche Mann fuchtelte mit den Armen.
»Zu Hilfe!«, rief er. »Der rote Hahn kräht!«
Die Kleine sah mit einem schelmischen Lächeln zu ihm auf.
»Du hast wohl nicht gewusst, dass ich Kommunistin bin.«
Im nächsten Moment waren Mädchen, Geschäftsmann und Schreibtisch verschwunden. Sofie stand allein da, während das trockene Gras immer wütender brannte. Sie versuchte, die Flammen auszutreten und nach einer Weile war ihr das auch gelungen.
Gott sei Dank! Sofie sah die schwarzen Grasbüschel an. In den Händen hielt sie eine Schachtel Streichhölzer.
Sie hatte den Brand doch wohl nicht selber gelegt?
Als sie Alberto vor der Hütte traf, erzählte sie ihm, was sie erlebt hatte.
»Scrooge ist ein geiziger Kapitalist in Charles Dickens’ ›Ein Weihnachtslied‹. Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern kennst du sicher noch aus dem Märchen von Hans Christian Andersen.«
»Aber ist das nicht seltsam, dass ich sie ausgerechnet hier im Wald getroffen habe?«
»Nein, gar nicht. Es ist nämlich kein normaler Wald. Und da wir beide uns jetzt über Karl Marx unterhalten werden, trifft es sich gut, dass du gerade ein Beispiel für die riesigen Klassengegensätze um die Mitte des letzten Jahrhunderts gesehen hast. Aber lass uns hineingehen. Trotz allem sind wir da ein bisschen besser vor dem Major geschützt.«
Wieder setzten sie sich an den Tisch vor dem Fenster, das auf den See hinausging. Sofie erinnerte sich noch gut, wie ihr der kleine See erschienen war, nachdem sie aus der blauen Flasche getrunken hatte. Jetzt standen die rote und die blaue Flasche auf dem Kaminsims. Auf dem Tisch stand eine kleine Kopie eines griechischen Tempels.
»Was ist das?«, fragte Sofie.
»Alles der Reihe nach, mein Kind.«
Und dann fing Alberto an, über Marx zu erzählen:
»Als Kierkegaard 1841 nach Berlin kam, saß er in Schellings Vorlesungen vielleicht neben Karl Marx. Kierkegaard hatte eine Magisterarbeit über Sokrates geschrieben, Karl Marx zur selben Zeit seine Doktorarbeit über Demokrit und Epikur – also über den antiken Materialismus. Damit hatten beide schon den künftigen Kurs ihrer Philosophie abgesteckt.«
»Weil Kierkegaard Existenzphilosoph wurde und Marx Materialist?«
»Marx bezeichnen wir als historischen Materialisten . Aber darauf kommen wir noch zurück.«
»Mach weiter!«
»Kierkegaard und Marx nahmen beide Hegels Philosophie zum Ausgangspunkt. Beide sind von seiner Denkweise geprägt, aber beide distanzieren sich auch von Hegels Vorstellung von einem Weltgeist – oder dem, was wir als Hegels Idealismus bezeichnen.«
»Der war ihnen wohl ein bisschen zu vage.«
»Genau. Ganz allgemein sagen wir oft, dass die Zeit der großen philosophischen Systeme mit Hegel aufgehört hat. Nach ihm schlägt die Philosophie eine ganz neue Richtung ein. An die Stelle großer spekulativer Systeme treten nun so genannte ›Existenz-‹, wir könnten auch sagen ›Handlungsphilosophien‹. Darauf spielte Marx an, als er sagte, bisher hätten die Philosophen die Welt immer nur interpretiert, anstatt sie zu verändern. Genau diese Worte kennzeichnen einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie.«
»Nachdem mir Scrooge und das Mädchen mit den Schwefelhölzern begegnet sind, verstehe ich ohne Probleme, was Marx gemeint hat.«
»Marx’ Denken hat also ein praktisches – und politisches – Ziel. Wir können uns außerdem merken, dass er nicht nur Philosoph war. Er war außerdem Historiker, Soziologe und Ökonom.«
»Und war er in all diesen Bereichen bahnbrechend?«
»Jedenfalls hat kein anderer Philosoph für die praktische Politik größere Bedeutung
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