Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
beruhigt. Sie ruderte wieder zum Steg und vertäute das Boot. Danach saß sie lange mit ihrer Mutter am Frühstückstisch. Es tat so gut, sagen zu können, dass das Ei herrlich war, aber vielleicht doch ein bisschen zu weich.
Erst spätabends griff sie wieder zu dem großen Ordner. Jetzt waren nicht mehr viele Seiten übrig.
Wieder klopfte es.
»Sollen wir uns nicht einfach die Ohren zuhalten?«, fragte Alberto. »Dann hört es vielleicht wieder auf.«
»Nein, ich will sehen, wer da ist.«
Als sie zur Tür ging, kam Alberto hinter ihr her.
Draußen stand ein nackter Mann. Er hatte sich gewaltig in Positur gestellt, trug aber wirklich nichts außer einer Krone auf dem Kopf.
»Na?«, fragte er. »Was sagen die Herrschaften zu des Kaisers neuen Kleidern?«
Alberto und Sofie waren stumm vor Verblüffung. Aber das machte dem Nackten überhaupt nichts aus.
»Ihr verbeugt euch ja gar nicht!«, rief er.
Alberto fasste Mut:
»Das stimmt, aber der Kaiser ist ja auch ganz nackt.«
Der nackte Mann verharrte weiter in seiner feierlichen Haltung. Alberto bückte sich zu Sofie hinunter und flüsterte ihr ins Ohr:
»Er hält sich für einen anständigen Menschen.«
Jetzt machte der Nackte ein mürrisches Gesicht.
»Betreibt dieses Haus eine Art Zensur?«, fragte er.
»Leider«, sagte Alberto. »Hier sind wir wach und in jeder Hinsicht klar bei Verstand. In Eurem schamlosen Zustand könnt Ihr deshalb die Schwelle dieses zugegeben kleinen Hauses nicht übertreten.«
Sofie fand den feierlichen, aber nackten Mann plötzlich so komisch, dass sie losprustete. Und als sei gerade das ein Geheimsignal gewesen, entdeckte der Mann mit der Krone plötzlich selber, dass er keine Kleider anhatte. Er bedeckte sich mit beiden Händen, rannte auf ein Wäldchen zu – und war verschwunden. Im Wäldchen traf er sich vielleicht mit Adam und Eva, Noah, Rotkäppchen und Pu dem Bär.
Alberto und Sofie blieben in der Tür stehen. Schließlich sagte Alberto:
»Vielleicht sollten wir lieber wieder hineingehen. Ich werde dir von Freud und seiner Lehre über das Unbewusste erzählen.«
Sie setzten sich ans Fenster. Sofie sah auf die Uhr und sagte:
»Es ist schon halb drei und ich muss vor dem Gartenfest noch viel erledigen.«
»Das muss ich auch. Wir reden nur noch kurz über Sigmund Freud .«
»War das ein Philosoph?«
»Wir können ihn jedenfalls als Kulturphilosophen bezeichnen. Freud wurde 1856 geboren und studierte an der Universität Wien Medizin. Hier verbrachte er auch den Großteil seines Lebens, gerade zu einer Zeit, als Wiens kulturelles Leben blühte. Er spezialisierte sich früh auf den Zweig der Medizin, den wir Neurologie nennen. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts – und bis weit in unseres hinein – erarbeitete er seine Tiefenpsychologie oder Psychoanalyse .«
»Das erklärst du besser genauer.«
»Unter Psychoanalyse verstehen wir eine Beschreibung des menschlichen Gemütes, der menschlichen Psyche , ganz allgemein und außerdem eine Behandlungsmethode für nervöse und psychische Leiden. Ich werde dir weder von Freud noch von seinem Werk ein vollständiges Bild geben. Aber seine Lehre vom Unbewussten ist notwendig, wenn du verstehen willst, was ein Mensch ist.«
»Du hast mein Interesse schon geweckt. Schieß los!«
»Freud meinte, dass zwischen einem Menschen und seiner Umgebung immer eine Spannung besteht. Genauer gesagt, eine Spannung – oder ein Konflikt – zwischen den Trieben und Bedürfnissen dieses Menschen selber und den Forderungen, die seine Umgebung an ihn stellt. Es ist kaum eine Übertreibung, wenn wir sagen, dass Freud das Triebleben der Menschen entdeckt hat. Das macht ihn zu einem wichtigen Vertreter der naturalistischen Strömungen, die gegen Ende des letzten Jahrhunderts so wichtig waren.«
»Was verstehst du unter dem ›Triebleben‹ der Menschen?«
»Nicht immer lenkt die Vernunft unsere Handlungen. Darum ist der Mensch auch nicht das rationale Wesen, als das sich ihn die Rationalisten des 18. Jahrhunderts so gern vorgestellt hatten. Oft bestimmen irrationale Impulse unsere Gedanken, unsere Träume und unsere Taten. Diese irrationalen Impulse können tief in uns steckende Triebe oder Bedürfnisse zum Ausdruck bringen. Ebenso grundlegend wie das Saugbedürfnis des Säuglings ist zum Beispiel der Sexualtrieb der Menschen.«
»Ich verstehe.«
»An sich war das vielleicht keine neue Entdeckung. Aber Freud zeigte, dass diese grundlegenden Bedürfnisse auch in Verkleidung und so verwandelt
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