Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
auftreten, dass wir ihre Herkunft nicht mehr ohne weiteres erkennen – dann leiten sie unsere Handlungen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Er zeigte außerdem, dass auch kleine Kinder eine Art Sexualität haben. Diese Behauptung einer kindlichen Sexualität erweckte bei Wiens feinen Bürgern Abscheu und machte Freud ausgesprochen unbeliebt.«
»Das wundert mich nicht.«
»Wir reden jetzt von einem Zeitalter, in dem alles, was mit Sexualität zu tun hatte, ein Tabu war. Freud war durch seine Praxis als Psychotherapeut der kindlichen Sexualität auf die Spur gekommen. Er hatte also eine empirische Grundlage für seine Behauptungen. Er hatte auch festgestellt, dass viele Formen psychischen Leidens auf Konflikte in der Kindheit zurückgeführt werden können. Nach und nach entwickelte er deshalb eine Behandlungsmethode, die wir als eine Art von ›seelischer Archäologie‹ bezeichnen können.«
»Wie meinst du das?«
»Der Psychoanalytiker kann sich mit Hilfe des Patienten in dessen Bewusstsein ›zurückgraben‹, um die Erlebnisse hervorzuholen, die irgendwann seine psychischen Leiden verursacht haben. Freud zufolge bewahren wir alle Erinnerungen an die Vergangenheit tief in uns auf.«
»Jetzt verstehe ich.«
»Und dann findet er vielleicht ein schlimmes Erlebnis, das der Patient immer zu vergessen versucht hat, das aber trotzdem unten in der Tiefe liegt und an den Kräften des Patienten nagt. Wenn ein solches ›traumatisches Erlebnis‹ wieder ins Bewusstsein gebracht – und damit dem Patienten gewissermaßen vorgehalten – wird, kann er damit ›fertig‹ und also wieder gesund werden.«
»Das klingt logisch.«
»Aber ich gehe zu schnell vor. Wir wollen uns erst ansehen, wie Freud die menschliche Psyche beschreibt. Hast du je einen Säugling gesehen?«
»Ich habe einen Vetter von vier Jahren.«
»Wenn wir auf die Welt kommen, leben wir ziemlich direkt und hemmungslos unsere physischen und psychischen Bedürfnisse aus. Wenn wir keine Milch bekommen, dann schreien wir. Das machen wir vielleicht auch, wenn unsere Windel nass ist. Und wir bringen klar zum Ausdruck, wenn wir physische Wärme und Körpernähe wollen. Dieses Trieb- oder Lustprinzip in uns hat Freud als das Es bezeichnet. Als Säugling sind wir ja fast nur ein Es.«
»Weiter!«
»Das Es bleibt uns auch als Erwachsene und unser ganzes Leben lang. Aber langsam lernen wir, unsere Lüste unter Kontrolle zu halten und uns dadurch unserer Umgebung anzupassen. Wir lernen, das Lustprinzip mit dem Realitätsprinzip abzustimmen. Freud sagt, wir bauen ein Ich auf, das diese regulierende Funktion übernimmt. Obwohl wir Lust auf etwas haben, können wir uns von einem bestimmten Alter an nicht mehr einfach hinsetzen und schreien, bis unsere Wünsche oder Bedürfnisse befriedigt werden.«
»Natürlich nicht.«
»Es kann allerdings vorkommen, dass wir uns etwas sehr wünschen, und dass die Umwelt das nicht akzeptiert. Dann verdrängen wir unsere Wünsche manchmal. Das heißt, wir versuchen, sie wegzuschieben und zu vergessen.«
»Ich verstehe.«
»Freud rechnet aber noch mit einer dritten Instanz in der menschlichen Psyche: Schon als kleine Kinder werden wir mit den moralischen Ansprüchen unserer Eltern und der Umwelt konfrontiert. Wenn wir etwas Falsches tun, dann sagen unsere Eltern: ›Lass das!‹ oder: ›Schäm dich was!‹ Und noch als Erwachsene hören wir den Nachhall solcher moralischer Anforderungen und Verurteilungen. Die moralischen Erwartungen unserer Umwelt scheinen in uns zu stecken und ein Teil von uns geworden zu sein. Das hat Freud als Über-Ich bezeichnet.«
»Hat er damit das Gewissen gemeint?«
»An einer Stelle sagt Freud tatsächlich, dass das Über-Ich dem Ich als Gewissen gegenüberstehe. Zunächst einmal geht es aber darum, dass das Über-Ich uns sozusagen Bescheid gibt, wenn wir ›schmutzige‹ oder ›unpassende‹ Wünsche haben. Das gilt besonders für erotische oder sexuelle Wünsche. Und wie gesagt – Freud hat nachgewiesen, dass solche Wünsche schon in der frühen Kindheit einsetzen.«
»Erklären, bitte!«
»Heute wissen und sehen wir, dass kleine Kinder gern an ihren Geschlechtsorganen herumspielen. Das können wir an jedem Badestrand beobachten. Zu Freuds Zeit kriegten die Zwei- oder Dreijährigen dafür einen Klaps auf die Finger. Die Kinder damals hörten ständig: ›Pfui!‹ oder: ›Lass das!‹ oder: ›Die Hände bleiben auf der Decke!‹«
»Das ist doch total daneben.«
»Aber so entwickeln
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