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Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie

Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie

Titel: Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Menschen ein Schuldgefühl. Und weil dieses Schuldgefühl im Über-Ich gespeichert wird, bleibt es für viele Menschen – Freud glaubte, für die allermeisten – ihr Leben lang mit allem Sexuellen untrennbar verbunden. Zugleich wies Freud aber darauf hin, dass sexuelle Wünsche und Bedürfnisse ein natürlicher und wichtiger Teil der menschlichen Natur sind – und somit, meine gute Sofie, hätten wir alles beieinander, was wir für einen lebenslänglichen Konflikt zwischen Lust und Schuldgefühlen benötigen.«
    »Meinst du nicht, dass dieser Konflikt seit Freuds Zeiten kleiner geworden ist?«
    »Das bestimmt. Aber viele von Freuds Patienten erlebten diesen Konflikt so stark, dass sie das entwickelten, was Freud Neurosen genannt hat. Eine seiner Patientinnen war zum Beispiel in ihren Schwager verliebt. Als ihre Schwester an einer Krankheit früh starb, dachte sie, während sie am Sterbebett saß: ›Jetzt ist er frei und kann mich heiraten!‹ Dieser Gedanke geriet natürlich in Widerspruch zu ihrem Über-Ich. Er war so ungeheuerlich, dass sie ihn verdrängte , wie Freud sagt. Das heißt, sie stieß ihn ins Unbewusste hinunter. Die junge Frau wurde krank und zeigte ernsthafte hysterische Symptome, und als Freud ihre Behandlung übernahm, stellte sich heraus, dass sie die Szene am Sterbebett ihrer Schwester und den hässlichen, egoistischen Wunsch, der in ihr aufgetaucht war, gründlich vergessen hatte. Aber während der Behandlung erinnerte sie sich daran. Sie durchlebte den krankmachenden Moment noch einmal und wurde wieder gesund.«
    »Jetzt verstehe ich besser, was du mit ›seelischer Archäologie‹ meinst.«
    »Dann lass uns eine allgemeine Beschreibung der menschlichen Psyche versuchen. Nach langer Erfahrung in der Behandlung von Patienten kam Freud zu der Erkenntnis, dass das Bewusstsein des Menschen nur einen kleinen Teil seiner Psyche ausmacht. Was bewusst ist, ist wie die Spitze des Eisbergs, die aus dem Wasser ragt. Unter der Wasseroberfläche – oder unter der Schwelle des Bewusstseins – sitzt das Unterbewusstsein oder das Unbewusste .«
    »Das Unbewusste ist also das, was in uns steckt, was wir aber vergessen haben?«
    »Wir haben ja nicht alle unsere Erfahrungen ständig im Bewusstsein. Aber alles, was wir gedacht oder erlebt haben und was uns einfällt, wenn wir nur nachdenken, bezeichnet Freud als das ›Vorbewusste‹. Der Ausdruck ›das Unbewusste‹ bezeichnet bei ihm alles, was wir verdrängt haben. Das heißt, alles, was wir unbedingt vergessen wollten, weil es unbehaglich, unschicklich oder ekelhaft ist. Wenn wir Wünsche und Lüste haben, die für unser Bewusstsein – oder für das Über-Ich – unerträglich sind, dann stopfen wir sie ins Untergeschoss. Weg damit!«
    »Ich verstehe.«
    »Dieser Mechanismus funktioniert bei allen gesunden Menschen. Aber für manche kann die Verbannung unbehaglicher oder verbotener Gedanken aus ihrem Bewusstsein so anstrengend sein, dass sie davon krank werden. Das auf diese Weise Verdrängte versucht nämlich immer wieder, ins Bewusstsein aufzusteigen, so dass immer mehr Energie darauf verwendet werden muss, diese Impulse vor der Kritik durch das Bewusstsein zu verstecken. Als Freud 1909 in den USA Vorlesungen über die Psychoanalyse hielt, erklärte er an einem einfachen Beispiel, wie dieser Verdrängungsmechanismus funktioniert.«
    »Erzähl!«
    »Er sagte den Zuhörern, sie sollten sich vorstellen, im Saal befände sich ein Individuum, das stört und ihn, den Redner, ablenkt, indem es frech lacht, redet und mit den Füßen scharrt. Womöglich könnte er gar nicht weiterreden. Dann würden sich wahrscheinlich ein paar kräftige Männer erheben und den Störenfried nach kurzem Handgemenge auf den Flur hinauswerfen. Er wäre dann ›verdrängt‹ worden und der Redner könnte in seinem Vortrag fortfahren. Der Störenfried könnte allerdings versuchen, wieder in den Saal hineinzugelangen, deshalb würden die Herren womöglich ihre Stühle zur Tür tragen und sich dort, nach vollendeter Verdrängung, als ›Widerstand‹ niederlassen. Freud meinte, man brauche sich nur den Saal als das ›Bewusste‹ und den Flur als das ›Unbewusste‹ vorstellen, dann hätte man ein gutes Bild des Verdrängungsprozesses.«
    »Ich finde auch, dass das ein gutes Bild ist.«
    »Sicher ist nur: Der Störenfried will wieder herein, Sofie. In jedem Fall wollen das unsere verdrängten Gedanken und Impulse. Wir leben unter einem konstanten Druck verdrängter Gedanken, die

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