Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
liebenswürdig!«
»Ich danke für die Aufmerksamkeit.«
»Wie ich höre, gehen Sie auch gern spazieren.« Sofies Mutter wollte offensichtlich ein Gespräch mit Alberto beginnen. »Es ist ja so wichtig, sich fit zu halten. Aber besonders sympathisch finde ich es, dass Sie zum Spaziergang einen Hund mitnehmen. Heißt er nicht Hermes?«
Alberto erhob sich und tippte an seine Kaffeetasse.
»Liebe Sofie!«, begann er. »Ich erinnere daran, dass wir hier ein philosophisches Gartenfest feiern. Deshalb werde ich eine philosophische Rede halten.«
Schon jetzt wurde er von Applaus unterbrochen.
»Auch in dieser ausgelassenen Gesellschaft kann eine Prise Vernunft nicht schaden. Aber wir wollen natürlich auch nicht vergessen, dem Geburtstagskind zum fünfzehnten Geburtstag zu gratulieren.«
Er hatte den Satz noch nicht beendet, als sie das Dröhnen eines Flugzeugs hörten. Bald zog es im Tiefflug über den Garten. Am Heck war ein langes Banner befestigt, darauf stand: »Herzlichen Glückwunsch zum fünfzehnten Geburtstag!«
Das führte zu neuem, noch kräftigerem Applaus.
»Da seht ihr!«, rief Sofies Mutter. »Der Mann kann mehr als nur Chinaböller anzünden!«
»Danke, eine reine Bagatelle. Sofie und ich haben im Laufe der letzten Wochen eine größere philosophische Untersuchung durchgeführt. Hier und jetzt wollen wir verkünden, was dabei herausgekommen ist. Wir werden das tiefste Geheimnis unseres Daseins verraten.«
Jetzt wurde es so still um den Tisch, dass man die Vögel singen hören konnte. Dazu kamen die Geräusche aus den Johannisbeersträuchern.
»Weiter!«, sagte Sofie.
»Nach sorgfältigen philosophischen Untersuchungen – die sich von den ersten griechischen Philosophen bis zum heutigen Tage hingezogen haben – fanden wir heraus, dass wir unsere Leben im Bewusstsein eines Majors leben. Er befindet sich zur Zeit als UN-Beobachter im Libanon und hat für seine Tochter zu Hause in Lillesand ein Buch über uns geschrieben. Sie heißt Hilde Møller Knag und ist am selben Tag wie Sofie fünfzehn geworden. Das Buch über uns alle hier lag auf ihrem Nachttisch, als sie am Morgen des 15. Juni erwachte. Genauer gesagt, handelt es sich um einen großen Ordner. In diesem Augenblick kitzeln die allerletzten Seiten in dem Ordner ihren Zeigefinger.«
Die Tischgesellschaft wurde spürbar nervös.
»Unser Dasein ist also nicht mehr und nicht weniger als eine Art Geburtstagsunterhaltung für Hilde Møller Knag. Denn wir sind allesamt nur als Umrahmung des philosophischen Unterrichts ersonnen worden, den der Major seiner Tochter erteilt. Das bedeutet zum Beispiel, dass der weiße Mercedes vor der Tür keine fünf Öre wert ist. Er ist nicht mehr wert als alle weißen Mercedesse im Kopf des armen UN-Majors, der sich soeben in den Schatten gesetzt hat, um keinen Sonnenstich zu bekommen. Im Libanon ist es nämlich heiß, ihr Lieben.«
»Verrückt!«, rief der Stadtkämmerer jetzt. »Das ist doch das pure Gewäsch!«
»Das Wort ist natürlich frei«, fuhr Alberto ungerührt fort. »Aber die Wahrheit ist, dass dieses ganze Gartenfest das pure Gewäsch ist. Die einzige kleine Prise Vernunft in dieser Gesellschaft ist diese Rede.«
Nun erhob sich der Stadtkämmerer und sagte:
»Da gibt man sich redliche Mühe, seine Pflicht zu tun. Man achtet außerdem darauf, dass man gegen alles und jedes versichert ist. Und plötzlich kommt so ein arbeitsscheuer Trottel mit angeblich ›philosophischen‹ Behauptungen daher, die alles zunichte machen!«
Alberto nickte.
»Gegen diese Art von philosophischer Erkenntnis hilft allerdings keine Versicherung. Wir reden hier von etwas, das schlimmer ist als alle Naturkatastrophen, Herr Stadtkämmerer. Wie Ihnen sicher bekannt ist, decken Versicherungen auch solche Schäden nicht.«
»Das hier ist keine Naturkatastrophe.«
»Nein, es ist eine existenzielle Katastrophe. Sie können zum Beispiel einen Blick in die Johannisbeersträucher werfen, dann werden Sie verstehen, was ich meine. Wir können uns nicht dagegen versichern, dass unser ganzes Dasein kollabiert. Man kann sich auch nicht dagegen versichern, dass die Sonne erlischt.«
»Müssen wir uns das wirklich bieten lassen?«, fragte Jorunns Vater seine Frau.
Sie schüttelte den Kopf und das tat auch Sofies Mutter.
»Wie traurig!«, sagte sie. »Und dabei hatten wir an nichts gespart!«
Die jungen Leute aber starrten Alberto nur mit großen Augen an. Es ist ja oft so, dass junge Menschen für neue Ideen und Gedanken
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