Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Jørgen beantwortete diesen Annäherungsversuch damit, dass er sie zu sich herunterzog, um ihren Kuss besser erwidern zu können.
»Ich glaube, ich werde ohnmächtig!«, rief Frau Ingebrigtsen.
»Aber doch nicht bei Tisch, Kinder«, war Frau Amundsens einziger Kommentar.
»Warum denn nicht?«, Alberto wandte sich zu ihr um.
»Was für eine merkwürdige Frage.«
»Für einen echten Philosophen gibt es keine merkwürdigen Fragen.«
Jetzt begannen zwei Jungen, die keinen Kuss bekommen hatten, Hähnchenknochen aufs Dach zu werfen. Auch das veranlasste Sofies Mutter zu einem Kommentar:
»Lasst das doch, bitte! Wir finden Hähnchenknochen in der Regenrinne lästig.«
»Tut uns Leid«, sagte einer der Jungen. Nun warfen sie die Knochen über den Gartenzaun.
»Ich glaube, es ist an der Zeit, die Teller einzusammeln und ein bisschen Kuchen aufzutragen«, sagte Sofies Mutter schließlich. »Wer möchte alles Kaffee?«
Das Ehepaar Ingebrigtsen, Alberto und noch zwei andere hoben die Hand.
»Sofie und Jorunn helfen mir vielleicht ...«
Auf dem Weg in die Küche kam es zu einem kleinen Gespräch unter Freundinnen.
»Warum hast du ihn geküsst?«
»Ich habe seinen Mund gesehen und da kriegte ich so furchtbare Lust. Er ist total unwiderstehlich.«
»Wie hat es geschmeckt?«
»Etwas anders, als ich’s mir vorgestellt hatte, aber ...«
»Dann war es das erste Mal?«
»Aber es wird nicht das letzte Mal sein.«
Bald standen Kaffee und Kuchen auf dem Tisch. Alberto verteilte Chinaböller an die Jungen, aber jetzt klopfte Sofies Mutter an ihre Kaffeetasse.
»Ich will keine große Rede halten«, sagte sie. »Aber ich habe nur eine Tochter, und nur dieses eine Mal ist es genau eine Woche und einen Tag her, seit sie fünfzehn geworden ist. Wie ihr seht, haben wir an nichts gespart. Der Baumkuchen hat vierundzwanzig Etagen, also mindestens eine für jeden. Wer sich zuerst nimmt, kann aber zwei Etagen nehmen. Denn wir fangen oben an, und die Ringe werden im Laufe der Zeit immer größer. So ist es auch in unserem Leben. Als Sofie noch eine kleine Maus war, trippelte sie in recht kleinen und bescheidenen Ringen durch die Gegend. Aber im Laufe der Jahre wurden die Ringe immer größer und größer. Jetzt ziehen sie sich schon bis zur Altstadt und wieder zurück nach Hause. Und da ihr Vater viel unterwegs ist, telefoniert sie außerdem in der ganzen Welt herum. Wir gratulieren zum fünfzehnten Geburtstag, Sofie!«
»Bezaubernd!«, rief Frau Ingebrigtsen.
Sofie war nicht sicher, ob damit ihre Mutter, die Rede, der Baumkuchen oder Sofie selber gemeint war.
Die Festgäste applaudierten und ein Junge warf einen Chinaböller in den Birnbaum. Nun stand auch Jorunn auf und versuchte, Jørgen vom Stuhl zu ziehen. Er ließ sich ziehen und sie legten sich ins Gras und küssten sich dort weiter. Nach einer Weile rollten sie sich unter die Johannisbeersträucher.
»Heutzutage ergreifen die Mädchen die Initiative«, sprach der Stadtkämmerer.
Mit diesen Worten stand er auf und ging zu den Johannisbeersträuchern, um sich, was dort vorging, aus nächster Nähe anzusehen. Worauf fast die gesamte Gesellschaft seinem Beispiel folgte. Nur Sofie und Alberto blieben auf ihren Plätzen sitzen. Bald standen die Gäste im Halbkreis um Jorunn und Jørgen, die die unschuldige Küsserei inzwischen abgehakt hatten und zu einer mittleren Knutscherei übergegangen waren.
»Die lassen sich wohl gar nicht aufhalten!«, sagte Frau Ingebrigtsen – nicht ohne einen gewissen Stolz.
»Nein, das Menschliche will eben immer wieder sein Recht«, meinte ihr Mann.
Er sah sich um, um wenn irgend möglich eine Art Anerkennung für diese wohlgesetzten Worte einzuheimsen. Als ihm nur stummes Nicken zuteil wurde, fügte er hinzu:
»Dagegen kann man nichts machen.«
Aus weiter Entfernung sah Sofie, dass Jørgen versuchte, Jorunns weiße Bluse aufzuknöpfen, die schon voller grüner Flecken war. Sie fingerte an seinem Gürtel herum.
»Dass ihr euch nur nicht erkältet«, sagte Frau Ingebrigtsen.
Sofie sah Alberto verzweifelt an.
»Das geht schneller, als ich gedacht hätte«, sagte er. »Wir müssen so schnell wie möglich weg von hier. Ich werde nur eine kurze Rede halten.«
Damit klatschte Sofie in die Hände.
»Könnt ihr euch bitte wieder setzen? Alberto will eine Rede halten.«
Alle außer Jorunn und Jørgen kamen angetrottet und setzten sich an den Tisch.
»Nein, wollen Sie wirklich eine Rede halten?«, fragte Sofies Mutter. »Das ist aber
Weitere Kostenlose Bücher