Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
gewesen waren, während die Mutter Weihnachtsplätzchen gebacken hatte. Als sie nach Hause kamen, war der ganze Küchentisch mit Pfefferkuchenmännlein bedeckt. Obwohl nicht alle gleich perfekt, waren sie irgendwie doch alle gleich gewesen. Und warum waren sie das? Weil die Mutter für alle Kuchen dieselbe Form verwendet hatte, natürlich.
Sofie war so zufrieden, dass ihr die Sache mit den Pfefferkuchen eingefallen war, dass sie die erste Aufgabe ganz einfach für beendet erklärte. Wenn ein Bäcker fünfzig ganz gleiche Kuchen macht, dann hat er eben für alle dieselbe Form verwendet. Und damit basta!
Dann hatte der Video-Platon in die verborgene Kamera geblickt und gefragt, warum alle Pferde gleich sind. Aber das stimmte doch nicht. Sofie würde ganz im Gegenteil sagen, dass keine zwei Pferde gleich waren, genauso wenig wie zwei Menschen gleich sein konnten.
Sie hätte die Aufgabe fast drangegeben, aber dann fiel ihr ein, was sie sich wegen der Pfefferkuchen überlegt hatte. Von denen waren auch keine zwei gleich, einige waren etwas dicker als die anderen, andere waren noch dazu zerbrochen; dennoch war für alle und jeden klar, dass sie auf eine gewisse Weise doch »ganz gleich« waren.
Vielleicht wollte Platon fragen, warum ein Pferd immer ein Pferd war und nicht zum Beispiel ein Zwischending zwischen Pferd und Schwein. Denn obwohl manche Pferde braun wie Bären waren und andere weiß wie Lämmer, hatten doch alle Pferde etwas gemeinsam. Sofie hatte zum Beispiel noch nie ein Pferd mit sechs oder acht Beinen gesehen. Aber Platon konnte doch wohl nicht meinen, dass alle Pferde gleich waren, weil sie aus derselben Form gegossen worden waren?
Dann hatte Platon eine wirklich große und schwierige Frage gestellt. Hat der Mensch eine unsterbliche Seele? Sofie fühlte sich unfähig, darauf zu antworten. Sie wusste nur, dass der tote Körper entweder verbrannt oder begraben wurde, und dann hatte man jedenfalls keine Zukunft. Wenn der Mensch eine unsterbliche Seele hatte, dann musste er auch aus zwei sehr verschiedenen Teilen bestehen: einem Körper, der nach einigen Jahren verschlissen ist – und einer Seele, die mehr oder weniger unabhängig von den Vorgängen im Körper operiert. Ihre Großmutter hatte einmal gesagt, ihr käme es so vor, als würde nur ihr Körper alt. Innerlich war sie immer dasselbe junge Mädchen geblieben.
Das mit dem »jungen Mädchen« führte Sofie zur letzten Frage: Sind Frauen und Männer gleich vernünftig? Da war sie sich wirklich nicht so sicher. Es kam doch darauf an, was Platon unter »vernünftig« verstand.
Plötzlich fiel ihr ein, was ihr Philosophielehrer über Sokrates gesagt hatte. Sokrates hatte erklärt, dass alle Menschen philosophische Wahrheiten einsehen könnten, wenn sie nur ihre Vernunft gebrauchten. Er glaubte außerdem, dass ein Sklave philosophische Fragen mit derselben Vernunft lösen könne wie ein Edelmann. Sofie war überzeugt, dass er auch gesagt hätte, Frauen und Männer seien gleich vernünftig.
Während sie noch so in ihre Grübeleien versunken dasaß, hörte sie es plötzlich in der Hecke rascheln, außerdem schnaufte und keuchte dort etwas wie eine Dampfmaschine. Im nächsten Moment schlüpfte der gelbe Hund in die Höhle. Er hielt einen großen Umschlag im Maul.
»Hermes!«, rief Sofie. »Vielen Dank!«
Der Hund ließ den Umschlag in Sofies Schoß fallen und sie streckte eine Hand aus und streichelte ihm den Hals.
»Hermes ist ein braver Hund«, sagte sie.
Worauf der Hund sich hinlegte und sich willig von Sofie streicheln ließ. Nach einigen Minuten stand er dann aber auf und stapfte durch die Hecke zurück zu dem Weg, den er gekommen war.
Sofie folgte ihm mit dem Umschlag in der Hand. Sie robbte durch die enge Hecke und stand einen Moment später außerhalb des Gartens.
Hermes lief nun auf den Waldrand zu und Sofie folgte ihm in einigen Metern Entfernung. Zweimal drehte der Hund sich um und knurrte, aber Sofie ließ sich nicht abschrecken. Jetzt wollte sie den Philosophen finden – und wenn sie bis nach Athen laufen müsste.
Der Hund lief etwas schneller, und bald erreichte er einen kleinen Pfad.
Auch Sofie beschleunigte ihr Tempo, aber nach einer Weile drehte der Hund sich um und kläffte wie ein Wachhund. Sofie ließ nicht locker; sie nutzte die Gelegenheit, um ihm noch näher zu kommen.
Hermes jagte weiter über den Pfad. Am Ende musste Sofie einsehen, dass sie ihn nicht einholen konnte. Lange stand sie da und hörte zu, wie der Hund sich
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