Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
auf einen Marmorblock. Dann blickte er in die Kamera und sagte:
»Wir sitzen am Rande des alten Marktplatzes von Athen. Trauriger Anblick, was? Heute, meine ich. Aber einst standen hier stolze Tempel, Gerichtslokale und andere öffentliche Gebäude, Geschäfte, ein Konzertsaal und sogar eine große Turnhalle. Alles zusammen umgab diesen Marktplatz, einen großen, viereckigen Platz ... Auf diesem kleinen Gelände wurde die Grundlage der gesamten europäischen Zivilisation gelegt. Wörter wie ›Politik‹ und ›Demokratie‹, ›Ökonomie‹ und ›Historie‹, ›Biologie‹ und ›Physik‹, ›Mathematik‹ und ›Logik‹, ›Theologie‹ und ›Philosophie‹, ›Ethik‹ und ›Psychologie‹, ›Theorie‹ und ›Methode‹, ›Idee‹ und ›System‹ – und noch viele weitere – stammen von einem ziemlich kleinen Volk, dessen tägliches Leben sich rund um diesen Platz abspielte. Hier sprach Sokrates mit den Menschen, die ihm begegneten. Vielleicht packte er einen Sklaven am Arm, der einen Krug mit Olivenöl trug, und stellte dem armen Mann eine philosophische Frage. Denn Sokrates meinte, auch ein Sklave habe dieselbe Vernunft wie ein Bürger. Vielleicht führte er einen erregten Wortwechsel mit einem Bürger – oder er war in ein leises Gespräch mit seinem jungen Schüler Platon vertieft. Es ist seltsam, daran zu denken. Wir reden immer noch von ›sokratischer‹ oder ›platonischer‹ Philosophie, aber es ist etwas ganz anderes, Platon oder Sokrates zu sein .«
Sicher fand Sofie diesen Gedanken seltsam. Aber mindestens ebenso seltsam kam es ihr vor, wie der Philosoph plötzlich mit ihr durch eine Videoaufnahme sprach, die ein geheimnisvoller Hund in ihr Geheimversteck im Garten gebracht hatte.
Nun erhob sich der Philosoph von den Marmorblöcken, auf denen er gesessen hatte. Und dann sagte er ziemlich leise:
»Eigentlich wollte ich es damit bewenden lassen, Sofie. Ich wollte dir die Akropolis und die Ruinen des alten Marktplatzes in Athen zeigen. Aber ich weiß noch nicht, ob dir wirklich klar ist, wie stolz diese Umgebung in alten Zeiten war ... und da fühlte ich mich versucht ... etwas weiter zu gehen. Das ist natürlich ganz gegen alle Regeln ... aber ich vertraue irgendwie darauf, dass es unter uns bleibt ... naja, egal, ein kleiner Einblick muss reichen ...«
Mehr sagte er nicht, er stand nur lange da und starrte in die Kamera. Gleich danach erschien ein ganz anderes Bild auf dem Bildschirm. Aus den Ruinen hatten sich mehrere hohe Bauten erhoben. Wie durch Zauberhand waren alle alten Ruinen wieder aufgebaut. Am Horizont sah Sofie immer noch die Akropolis, aber nun waren die Akropolis und die Gebäude unten am Markt nagelneu. Sie waren vergoldet und in strahlenden Farben bemalt. Auf dem großen viereckigen Platz spazierten Menschen in farbenfrohen Gewändern. Einige trugen Schwerter, andere einen Krug auf dem Kopf, und einer hatte eine Papyrusrolle unter dem Arm.
Erst jetzt erkannte Sofie ihren Philosophielehrer. Er trug immer noch die blaue Baskenmütze auf dem Kopf, hatte nun aber wie die anderen Menschen auf dem Bild ein gelbes Gewand an. Er kam auf Sofie zu, schaute in die Kamera und sagte:
»So, ja. Jetzt befinden wir uns im antiken Athen, Sofie. Ich wollte, dass du selber herkommst, verstehst du? Wir schreiben das Jahr 402 vor Christus, nur drei Jahre vor dem Tod des Sokrates. Ich hoffe, du weißt diesen exklusiven Besuch zu schätzen, es war nämlich sehr schwer, eine Videokamera zu mieten ...«
Sofie spürte, dass ihr schwindlig wurde. Wie konnte der geheimnisvolle Mann plötzlich im Athen von vor 2400 Jahren stehen? Wie konnte sie eine Videoaufnahme aus einer anderen Zeit sehen? Sofie wusste natürlich, dass es in der Antike kein Video gegeben hatte. Ob sie vielleicht einen Spielfilm sah? Aber die vielen Marmorbauten sahen ganz echt aus. Wenn man den ganzen alten Marktplatz von Athen und dazu noch die Akropolis für nur einen Film wieder aufbauen wollte – nein, dann würden diese Kulissen ein wenig zu viel kosten. Es wäre jedenfalls ein ganz schön hoher Preis, nur um Sofie etwas über Athen beizubringen.
Der Mann mit der Baskenmütze schaute wieder auf.
»Siehst du die beiden Männer dahinten im Säulengang?«
Sofie entdeckte einen älteren Mann in einem leicht zerlumpten Gewand. Er hatte einen langen, ungepflegten Bart, eine platte Nase, stechende blaue Augen und Apfelbäckchen. Neben ihm stand ein schöner junger Mann.
»Das sind Sokrates und sein junger Schüler.
Weitere Kostenlose Bücher