Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Sprachen, abgesehen von den finnougrischen Sprachen (Samisch, Finnisch, Estnisch und Ungarisch) und Baskisch. Auch die meisten indischen und iranischen Sprachen gehören zur indogermanischen Sprachfamilie.
Irgendwann vor ungefähr viertausend Jahren lebten die Urindogermanen wahrscheinlich in der Gegend des Schwarzen und des Kaspischen Meeres. Bald zogen solche indogermanischen Stämme in großen Wellen nach Südosten in den Iran und nach Indien; nach Südwesten nach Griechenland, Italien und Spanien; nach Westen durch Mitteleuropa nach England und Frankreich; nach Nordwesten nach Skandinavien und nach Norden nach Osteuropa und Russland. Überall vermischten sich die Indogermanen mit den vorindogermanischen Kulturen, wobei jedoch die indogermanische Religion und Sprache die dominierende Rolle spielten.
Sowohl die alten indischen Veden-Schriften als auch die griechische Philosophie und sogar Snorres Götterlehre sind also in verwandten Sprachen geschrieben. Aber nicht nur die Sprachen sind verwandt. Zu verwandten Sprachen gehören meistens auch verwandte Gedanken. Deshalb sprechen wir gern von einem indogermanischen Kulturkreis .
Die Kultur der Indogermanen war vor allem geprägt vom Glauben an viele verschiedene Götter. Das bezeichnen wir als Polytheismus . Götternamen und viele wichtige religiöse Wörter und Ausdrücke finden wir im ganzen indogermanischen Bereich. Ich nenne einige Beispiele:
Die alten Inder verehrten den Himmelsgott Dyaus . Auf Griechisch heißt dieser Gott Zeus , auf Lateinisch Jupiter (eigentlich Iov-pater , das heißt »Vater Iov«), und auf Altnordisch Tyr . Die Namen Dyaus, Zeus, Iov und Tyr sind also verschiedene Varianten desselben Worts.
Vielleicht weißt du noch, dass die Wikinger in Nordeuropa Götter verehrten, die sie Asen nannten. Auch dieses Wort für »Götter« finden wir im gesamten indogermanischen Bereich. Auf Altindisch (Sanskrit) heißen die Götter asura , auf Iranisch ahura . Ein weiteres Wort für Gott heißt auf Sanskrit deva , auf Iranisch daeva , auf Lateinisch deus und auf Altnordisch tivurr .
In Nordeuropa gab es außerdem eine eigene Gruppe von Fruchtbarkeitsgottheiten (zum Beispiel Njord, Frøy und Frøya). Diese Gottheiten wurden als Wanen bezeichnet. Dieses Wort ist verwandt mit dem Namen der lateinischen Fruchtbarkeitsgöttin Venus . Im Sanskrit gibt es das verwandte Wort vani , das »Lust« oder »Begehren« bedeutet.
Auch einzelne Mythen zeigen im gesamten indogermanischen Bereich eine klare Verwandtschaft. Wenn Snorre von den altnordischen Göttern erzählt, erinnern manche Mythen an indische Mythen, die zwei- oder dreitausend Jahre früher erzählt worden sind. Natürlich sind Snorres Mythen geprägt von nordischen Naturverhältnissen und die indischen von der indischen Natur. Aber viele der Mythen haben einen Kern, der auf einen gemeinsamen Ursprung hinweist. Einen solchen Kern sehen wir am deutlichsten in den Mythen des Unsterblichkeitstrunkes und des Kampfes der Götter gegen ein Chaosungeheuer.
Auch im Denken selber sehen wir klare Verbindungen zwischen den indogermanischen Kulturen. Eine typische Gemeinsamkeit liegt darin, dass sie die Welt als Drama auffassten, in dem die guten und die bösen Kräfte einander in unversöhnlichem Streit bekämpfen. Die Indogermanen haben deshalb oft versucht, »weiszusagen«, was aus der Welt werden wird.
Wir können gut sagen, dass es kein Zufall ist, dass die griechische Philosophie gerade im indogermanischen Bereich entstanden ist. Indische, griechische und nordische Mythologie zeigen klare Ansätze zu einer philosophischen oder »spekulativen« Betrachtungsweise.
Die Indogermanen versuchten, »Einblick« in den Weltverlauf zu gewinnen. Ja, wir können sogar im gesamten indogermanischen Bereich einem bestimmten Wort für »Einsicht« oder »Wissen« von Kultur zu Kultur folgen. Im Sanskrit heißt dieses Wort vidya . Dieses Wort ist identisch mit dem griechischen Wort idé , das, wie du weißt, in Platons Philosophie eine wichtige Rolle spielte. Aus dem Lateinischen kennen wir das Wort video , was für die Römer einfach »sehen« bedeutete. (Erst in unseren Tagen wird »sehen« fast mit dem Anstarren eines Fernsehschirmes gleichgesetzt.) Aus dem Englischen kennen wir Wörter wie wise und wisdom (Weisheit), auf Deutsch weise und Wissen . Im Norwegischen haben wir das Wort viten . Das norwegische Wort »viten« hat also dieselben Wurzeln wie das indische Wort »vidya«, das griechische »idé« und das
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