Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Karten stand. Jorunn ordnete sie in der richtigen Reihenfolge. Sie las auch die erste Karte vor.
Liebe Hilde! Du kannst mir wirklich glauben, dass ich mich darauf freue, nach Hause nach Lillesand zu kommen. Ich werde wohl am frühen Abend des 23. Juni in Kjevik landen. Am allerliebsten wäre ich zu deinem 15. Geburtstag gekommen, aber ich stehe ja unter militärischem Kommando. Zum Ausgleich kann ich dir versprechen, dass ich all meine Sorgfalt in ein großes Geschenk stecke, das du an deinem Geburtstag bekommen wirst.
Liebe Grüße von einem, der immer an die Zukunft seiner Tochter denkt
PS. Ich schicke einer gemeinsamen Bekannten eine Kopie dieser Karte. Das verstehst du schon, Hildchen. Im Moment bin ich sehr geheimnisvoll, aber das verstehst du bestimmt.
Sofie hob die nächste Karte hoch:
Liebe Hilde! Hier unten müssen wir einen Tag nach dem anderen angehen. Wenn ich mich später an etwas von all diesen Monaten im Libanon erinnern werde, dann an die viele Warterei. Aber ich gebe mir alle Mühe, um dir ein so schönes Geschenk zum 15. Geburtstag geben zu können wie möglich. Mehr kann ich im Moment nicht sagen. Ich erlege mir selber eine strenge Zensur auf.
Liebe Grüße, Papa
Die beiden Freundinnen saßen atemlos vor Spannung da. Keine von ihnen sagte etwas, sie lasen nur, was auf den Karten stand.
Mein liebes Kind! Am liebsten würde ich dir meine Geständnisse mit einer weißen Taube schicken. Aber im Libanon sind keine weißen Tauben aufzutreiben. Wenn dieses vom Krieg verwüstete Land wirklich etwas braucht, dann weiße Tauben. Möge die UNO irgendwann wirklich Frieden auf der Welt schaffen.
PS. Vielleicht kannst du dein Geburtstagsgeschenk mit anderen Menschen teilen? Wir werden ja sehen, wenn ich nach Hause komme. Aber du hast ja noch immer keine Ahnung, wovon ich rede.
Liebe Grüße von einem, der viel Zeit hat, um an uns beide zu denken
Als sie sechs Karten gelesen hatten, war nur noch eine übrig.
Liebe Hilde! Ich könnte natürlich platzen wegen all der Geheimnisse, die mit deinem Geburtstag zu tun haben, und mehrmals am Tag muss ich mich zusammenreißen, um nicht anzurufen und alles zu erzählen. Es wächst und wächst ganz einfach. Und du weißt, wenn etwas immer größer wird, ist es auch schwieriger, es für uns selber zu behalten.
Liebe Grüße, Papa
PS. Du wirst ein Mädchen namens Sofie kennen lernen. Damit ihr ein wenig voneinander erfahren könnt, ehe ihr euch trefft, habe ich angefangen, ihr Kopien von all meinen Karten an dich zu schicken. Ob sie wohl bald anfängt, den Zusammenhang zu ahnen, Hildchen? Bisher weiß sie nicht mehr als du. Sie hat eine Freundin namens Jorunn. Vielleicht kann die helfen?
Als Jorunn und Sofie die letzte Karte gelesen hatten, starrten sie einander in die Augen. Jorunn hatte Sofies Handgelenk gepackt.
»Ich habe Angst«, sagte sie.
»Ich auch.«
»Wann ist die letzte Karte abgestempelt?«
Sofie sah noch einmal die Karte an.
»Am 16. Mai«, sagte sie. »Also heute.«
»Unmöglich!«, widersprach Jorunn, sie war fast böse.
Sie musterten den Stempel genau und es war kein Irrtum möglich. Dort stand »16.05.90«.
»Das geht einfach nicht«, beharrte Jorunn. »Und ich kann nicht begreifen, wer das geschrieben haben soll. Es muss doch jemand sein, der uns kennt. Aber woher hat er wissen können, dass wir heute hierher kommen?«
Jorunn fürchtete sich am meisten. Für Sofie war diese Sache mit Hilde und ihrem Vater ja schließlich nichts Neues.
»Ich glaube, es hängt irgendwie mit dem Messingspiegel zusammen.«
Wieder fuhr Jorunn zusammen.
»Du willst doch wohl nicht sagen, dass die Karten in dem Moment, in dem sie im Libanon abgestempelt werden, hier aus dem Spiegel fallen?«
»Hast du eine bessere Erklärung?«
»Nein.«
»Aber das ist nicht das einzige Rätsel hier.«
Sofie stand auf und beleuchtete mit der Kerze die beiden Bilder an der Wand. Jorunn beugte sich zu den Bildern vor.
»›Berkeley‹ und ›Bjerkely‹. Was bedeutet das?«
»Keine Ahnung.«
Jetzt war die Kerze fast heruntergebrannt.
»Wir gehen!«, sagte Jorunn. »Komm!«
»Ich will bloß den Spiegel mitnehmen.«
Damit stand Sofie auf und nahm den großen Messingspiegel, der über der weißen Kommode hing, von der Wand. Jorunn wollte protestieren, aber Sofie ließ sich nicht bremsen.
Als sie nach draußen kamen, war es so dunkel, wie eine Mainacht überhaupt sein kann. Gerade noch konnte man die Umrisse von Büschen und Bäumen
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