Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
seinen Willen in der Welt durchsetzen kann. Wie er einst Abraham ins »Gelobte Land« geführt hat, führt er das Leben der Menschen durch die Geschichte bis zum »Jüngsten Gericht«. Und dann wird alles Übel auf der Welt vernichtet werden.
Die starke Betonung von Gottes Handeln in der Geschichte hat dazu geführt, dass sich die Semiten seit vielen tausend Jahren mit Geschichtsschreibung befassen. Gerade die historischen Wurzeln stehen ja im Mittelpunkt ihrer religiösen Schriften.
Noch heute ist die Stadt Jerusalem für Juden, Christen und Moslems ein wichtiges religiöses Zentrum. Auch das sagt einiges über den gemeinsamen historischen Hintergrund dieser drei Religionen. Hier liegen wichtige (jüdische) Synagogen, (christliche) Kirchen und (moslemische) Moscheen. Deshalb ist es so tragisch, dass gerade Jerusalem zum Zankapfel geworden ist – ja, dass sich die Menschen zu Tausenden gegenseitig umbringen, weil sie sich nicht einigen können, wem die Herrschaft über die »ewige Stadt« zukommt. Möge die UNO eines Tages dafür sorgen können, dass Jerusalem zum religiösen Begegnungspunkt aller drei Religionen wird! (Über diesen praktischen Teil des Philosophiekurses werden wir vorerst nichts mehr sagen. Das überlassen wir Hildes Vater. Denn du weißt doch wohl, dass der UN-Beobachter im Libanon ist? Genauer gesagt, kann ich verraten, dass er als Major dient. Wenn du langsam einen Zusammenhang ahnst, dann ist das ganz richtig. Andererseits dürfen wir dem Gang der Ereignisse nicht vorgreifen.)
Wir haben das Sehen als wichtigsten Sinn der Indogermanen bezeichnet. Ebenso verblüffend ist, welch wichtige Rolle das Gehör für den semitischen Bereich spielt. Nicht zufällig beginnt das jüdische Glaubensbekenntnis mit den Worten: »Höre, Israel!« Im Alten Testament lesen wir, wie die Menschen die Worte des Herrn »hörten«, und die jüdischen Propheten begannen ihre Verkündigungen gern mit der Formel »Also sprach Jahve« (Gott). Auch im Christentum wird Gewicht auf das »Hören« von Gottes Wort gelegt. Vor allem sind der jüdische, der christliche und der moslemische Gottesdienst vom Vorlesen der heiligen Schriften geprägt.
Ich habe auch gesagt, dass die Indogermanen Bilder und Skulpturen ihrer Götter herstellten. Für die Semiten ist es typisch, dass sie eine Art Bildverbot praktizieren. Das bedeutet, dass sie keine Bilder oder Skulpturen von Gott oder allem, was heilig ist, herstellen dürfen. Auch im Alten Testament steht, dass die Menschen sich kein Bildnis Gottes machen dürfen. Diese Regel gilt noch heute für den Islam und das Judentum. Im Islam herrscht überhaupt eine allgemeine Abneigung gegen Fotografie und bildende Kunst. Die Menschen sollen nicht mit Gott darin wetteifern, etwas zu »erschaffen«.
Aber in der christlichen Kirche wimmelt es ja von Bildern von Gott und Jesus, denkst du jetzt vielleicht. Das stimmt, Sofie, und das ist nun gerade ein Beispiel dafür, wie das Christentum von der griechisch-römischen Welt geprägt worden ist. (In der orthodoxen Kirche – also in Griechenland und Russland – besteht immer noch ein Verbot von geschnitzten Bildern, das heißt von Skulpturen und Kruzifixen mit Szenen aus der biblischen Geschichte.)
Im Gegensatz zu den großen östlichen Religionen betonen die drei westlichen Religionen einen Abgrund zwischen Gott und seiner Schöpfung. Das Ziel liegt nicht in der Erlösung von der Seelenwanderung, sondern in der Erlösung von Sünde und Schuld. Außerdem ist das religiöse Leben eher geprägt von Gebet, Predigt und Bibellektüre als von Selbstvertiefung und Meditation.
Israel
Ich will jetzt nicht zu deinem Religionslehrer in Konkurrenz treten, liebe Sofie. Aber wir wollen uns doch kurz den jüdischen Hintergrund des Christentums ansehen.
Alles hat damit angefangen, dass Gott die Welt erschaffen hat. Wie sich das zutrug, kannst du auf den ersten Seiten der Bibel lesen. Aber dann erhoben sich die Menschen gegen Gott. Die Strafe dafür war nicht nur, dass Adam und Eva aus dem Garten Eden vertrieben wurden. Nun trat auch der Tod in die Welt.
Der Ungehorsam der Menschen gegen Gott zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Bibel. Wenn wir weiter im Ersten Buch Mose blättern, dann hören wir von der Sintflut und der Arche Noah. Dann hören wir, dass Gott mit Abraham und dessen Stamm einen Pakt schloss. Dieser Pakt – oder diese Abmachung – verlangte, dass Abraham und sein Stamm Gottes Gebote einhalten sollten. Später wurde dieser Pakt
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