Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
erkennen. Der kleine See lag da wie ein Spiegelbild des Himmels. Die beiden Freundinnen ruderten langsam zum anderen Ufer.
Keine von ihnen sagte auf dem Rückweg zum Zelt besonders viel, aber beide dachten, dass die andere sich bestimmt den Kopf über alles zerbrach, was sie gesehen hatten. Ab und zu schreckten sie einen Vogel auf; zweimal hörten sie eine Eule.
Als sie das Zelt gefunden hatten, krochen sie in ihre Schlafsäcke. Jorunn weigerte sich, den Spiegel ins Zelt zu lassen. Ehe sie einschliefen, gestanden sie einander, dass es schon unheimlich war, dass er draußen vor dem Zelteingang lag. Sofie hatte auch die Postkarten mitgenommen. Sie hatte sie in eine Seitentasche am Rucksack gesteckt.
Am nächsten Morgen wurden sie früh wach. Sofie kroch als Erste aus dem Schlafsack. Sie zog die Stiefel an und verließ das Zelt. Draußen lag im Gras der große Messingspiegel. Er war voller Tau. Sofie wischte den Tau mit ihrem Pullover fort und sah auf ihr eigenes Spiegelbild hinab. Zum Glück fand sie keine tagesfrischen Postkarten aus dem Libanon.
Über das Plateau hinter dem Zelt trieb zerrissener Morgennebel wie kleine Wattebäusche. Die kleinen Vögel zwitscherten energisch; große Vögel konnte sie weder sehen noch hören.
Die beiden Freundinnen zogen sich Extra-Pullover an und frühstückten vor dem Zelt. Bald redeten sie wieder über die Majorshütte und die geheimnisvollen Postkarten.
Nach dem Frühstück packten sie ihr Zelt zusammen und machten sich auf den Heimweg. Die ganze Zeit hielt Sofie den großen Messingspiegel unter dem Arm. Manchmal musste sie eine kleine Pause einlegen; Jorunn weigerte sich nämlich, den Spiegel anzurühren.
Als sie sich den ersten Häusern näherten, hörten sie es hin und wieder krachen. Sofie musste daran denken, was Hildes Vater über den vom Krieg verwüsteten Libanon geschrieben hatte. Ihr ging auf, was es für ein Glück war, in einem so friedlichen Land zu wohnen. Das Krachen stammte von unschuldigen Chinaböllern.
Sofie lud Jorunn zu einer Tasse Kakao ein. Die Mutter wollte unbedingt wissen, woher sie den großen Spiegel hatten. Sofie sagte, sie habe ihn bei der Majorshütte gefunden. Wieder sagte die Mutter, dass diese Hütte seit vielen, vielen Jahren unbewohnt sei.
Als Jorunn nach Hause ging, zog Sofie ein rotes Kleid an. Der Rest des Nationalfeiertages verlief ziemlich normal. In den Abendnachrichten gab es eine Reportage darüber, wie die norwegischen UN-Soldaten im Libanon den Tag gefeiert hatten. Sofie starrte den Bildschirm an. Einer der Männer, die sie da sah, konnte Hildes Vater sein.
Als Letztes an diesem 17. Mai hängte Sofie den großen Messingspiegel in ihrem Zimmer auf. Am nächsten Vormittag fand sie in der Höhle einen neuen gelben Briefumschlag. Sie riss ihn auf und las sofort, was auf den Bögen stand.
Zwei Kulturkreise
... nur so wirst du nicht durch den leeren Raum schweben ...
Jetzt dauert es nicht mehr so lange, bis wir uns treffen werden, Sofie. Ich habe damit gerechnet, dass du zur Majorshütte zurückkehren würdest, deshalb habe ich dort alle Karten von Hildes Vater hinterlassen. Nur so können sie an Hilde weitergereicht werden.
Du brauchst dir aber nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie die Karten erhalten soll. Bis zum 15. Juni fließt noch viel Wasser ins Meer.
Wir haben gesehen, wie die Philosophen des Hellenismus die alten griechischen Philosophen wiedergekäut haben. Außerdem haben sie sich als Religionsstifter versucht. Plotin hätte Platon fast als dem Erlöser der Menschheit gehuldigt.
Aber wie wir wissen, wurde mitten in der hier behandelten Periode ein anderer Erlöser geboren – und zwar außerhalb des griechisch-römischen Kulturkreises. Ich denke an Jesus von Nazareth . In diesem Kapitel werden wir sehen, wie das Christentum langsam in die griechisch-römische Welt eindrang – ungefähr so, wie Hildes Welt langsam angefangen hat, in unsere Welt einzudringen.
Jesus war Jude und die Juden gehören zum semitischen Kulturkreis. Griechen und Römer gehören zum indogermanischen Kulturkreis. Wir können also feststellen, dass die europäische Zivilisation zwei Wurzeln hat. Ehe wir uns näher ansehen, wie sich das Christentum langsam mit der griechisch-römischen Kultur vermischt, werden wir einen genaueren Blick auf diese beiden Wurzeln werfen.
Die Indogermanen
Als indogermanisch bezeichnen wir alle Länder und Kulturen, in denen indogermanische Sprachen gesprochen werden. Dazu gehören alle europäischen
Weitere Kostenlose Bücher