Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
– das ist Europas Schulzeit. Und dann kommt die Renaissance. Jetzt ist die lange Schulzeit vorbei und das junge Europa will sich endlich ins Leben stürzen. Wir können die Renaissance vielleicht als Europas fünfzehnten Geburtstag bezeichnen. Es ist Mitte Juni, mein Kind – und »hier ist es göttlich sein! O wie schön ist doch das Leben!«
PS. Es hat mir Leid getan, dass du dein Goldkreuz verloren hast. Du musst wirklich besser auf deine Sachen aufpassen.
Liebe Grüße von Papa – der sehr bald kommen wird
Hermes lief schon die Treppe hoch. Sofie nahm die Postkarte und folgte ihm. Sie musste rennen, um mit ihm Schritt zu halten; er wedelte wild mit dem Schwanz. Sie passierten den ersten, zweiten, dritten und vierten Stock. Nun führte nur noch eine schmale Treppe weiter nach oben. Sie wollten doch wohl nicht aufs Dach? Aber Hermes lief immer weiter. Er blieb vor einer schmalen Tür stehen und kratzte mit den Pfoten daran.
Bald hörte Sofie, wie sich auf der anderen Seite Schritte näherten. Dann öffnete sich die Tür und vor ihr stand Alberto Knox. Er hatte sich umgezogen, aber auch heute war er verkleidet. Er trug weiße Kniestrümpfe, eine weite rote Hose und eine gelbe Jacke mit dicken Schulterpolstern. Er erinnerte Sofie an einen Joker aus einem Kartenspiel. Wenn sie sich nicht sehr irrte, dann war das ein typisches Renaissancekostüm.
»Du Clown!«, rief Sofie, schob ihn gleichzeitig beiseite und ging in die Wohnung. Sie war immer noch aufgewühlt von der Karte, die sie im Treppenhaus gefunden hatte.
»Immer mit der Ruhe, mein Kind«, sagte Alberto nun und schloss die Tür hinter ihr.
»Und hier ist die Post«, sagte Sofie und gab ihm die Karte, als sei er dafür verantwortlich.
Alberto las die Karte im Stehen und schüttelte den Kopf.
»Der wird wirklich immer frecher. Ich sage dir, der benutzt uns als eine Art Geburtstagsunterhaltung für seine Tochter.«
Und dann zerriss er die Karte in viele Fetzen. Die Fetzen warf er in den Papierkorb.
»Auf der Karte stand, dass Hilde ein Goldkreuz verloren hat«, sagte Sofie.
»Das habe ich gelesen.«
»Aber genau dieses Kreuz habe ich heute in meinem Bett gefunden. Kannst du dir vorstellen, wie es dahin gekommen ist?«
Alberto blickte ihr feierlich in die Augen.
»Es mag vielleicht überzeugend wirken. Aber es ist nur ein billiger Trick, der ihn nicht die kleinste Anstrengung kostet. Wir konzentrieren uns besser auf das große Kaninchen, das aus dem schwarzen Zylinder des Universums gezogen wird.«
Sie gingen ins Wohnzimmer und so ein seltsames Wohnzimmer hatte Sofie noch nie gesehen.
Alberto wohnte in einer großen Dachbodenwohnung mit schrägem Dach. In diesem Dach gab es ein Fenster, das das scharfe Licht direkt vom Himmel hereinließ. Aber das Zimmer hatte auch ein Fenster mit Blick auf die Stadt. Durch dieses Fenster konnte Sofie über die Dächer der vielen alten Mietshäuser hinwegsehen.
Aber die Einrichtung des großen Wohnzimmers verblüffte Sofie am meisten. Das Zimmer war mit Möbeln und Gegenständen aus den unterschiedlichsten Epochen angefüllt. Ein Sofa mochte aus den dreißiger Jahren stammen, ein alter Sekretär von der Zeit um die Jahrhundertwende und einer der Stühle musste viele hundert Jahre alt sein. Aber die Möbel waren ja nur eins! In Regalen und Fächern gab es wild durcheinander Nippesfiguren, alte Uhren und Krüge, Mörser und Retorten, Messer und Puppen, Federmesser und Buchstützen, Oktanten und Sextanten, Kompasse und Barometer. Eine ganze Wand war mit Büchern bedeckt, aber es waren keine Bücher, wie man sie in einem Buchladen findet. Auch die Büchersammlung wirkte wie ein Querschnitt durch die Buchproduktion vieler Jahrhunderte. An den Wänden hingen Zeichnungen und Gemälde. Einige waren wohl während der letzten Jahrzehnte entstanden, aber viele mussten sehr alt sein. An den Wänden hingen außerdem einige alte Landkarten. Auf der einen Karte waren der Sognefjord nach Trøndelag und der Trondheimsfjord weit in den Norden verlegt worden.
Sofie blieb einige Minuten lang wortlos stehen. Sie drehte sich um und ließ nicht locker, bis sie das Zimmer aus allen Blickwinkeln gesehen hatte.
»Du sammelst ja ganz schön viel Schrott«, sagte sie schließlich.
»Nun, nun. Überleg dir mal, wie viel Jahrhunderte an Geschichte in diesem Zimmer aufbewahrt sind. Ich würde das nicht als Schrott bezeichnen.«
»Hast du ein Antiquitätengeschäft oder so was?«
Jetzt machte Alberto fast eine wehmütige Miene.
»Nicht
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