Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
schickt.«
»Ich gebe zu, das ist ein schwacher Punkt.«
»Willst du mir nicht erzählen, wo du gewesen bist?«
Und das machte Sofie jetzt. Sie erzählte auch von ihrem geheimnisvollen Philosophiekurs. Dafür nahm sie Jorunn das feierliche Versprechen ab, dass alles zwischen ihnen beiden bleiben würde, wie es war.
Lange gingen sie schweigend nebeneinander her.
»Mir gefällt das nicht«, sagte Jorunn, als sie sich dem Kløverveien 3 näherten. Sie blieb vor Sofies Gartentor stehen und wollte nun offenbar kehrtmachen.
»Das verlangt ja auch niemand von dir. Aber Philosophie ist wichtig. Es geht ihr darum, wer wir sind und woher wir kommen. Und lernen wir darüber vielleicht was in der Schule?«
»Solche Fragen kann doch ohnehin niemand beantworten.«
»Aber wir lernen nicht einmal, diese Fragen zu stellen.«
Das Mittagessen stand schon auf dem Tisch, als Sofie die Küche betrat. Dass sie von Jorunn aus nicht angerufen hatte, wurde nicht kommentiert.
Nach dem Essen wollte sie Mittagsschlaf halten. Sie gab zu, dass sie bei Jorunn fast nicht geschlafen hatte. Aber das war für Übernachtungsbesuche ja nicht ungewöhnlich.
Ehe sie ins Bett ging, trat sie vor den großen Messingspiegel, den sie an die Wand gehängt hatte. Zuerst sah sie nur ihr eigenes müdes und blasses Gesicht. Aber dann – hinter ihrem eigenen Gesicht schienen plötzlich die schwachen Konturen eines anderen Gesichts aufzutauchen.
Sofie holte zweimal Atem. Jetzt durfte sie sich wirklich nichts einbilden. In scharfen Konturen sah sie ihr eigenes blasses Gesicht, umkränzt von den schwarzen Haaren, die für keine andere Frisur als die natürlichen ›glatt fallenden Haare‹ taugten. Aber unter oder hinter diesem Gesicht spukte noch das Gesicht einer anderen.
Plötzlich zwinkerte die Fremde im Spiegel energisch mit beiden Augen. Sie schien signalisieren zu wollen, dass es sie auf der anderen Seite des Spiegels wirklich gab. Es dauerte nur wenige Sekunden. Dann war sie verschwunden.
Sofie setzte sich aufs Bett. Sie war ganz sicher, dass sie im Spiegel Hildes Gesicht gesehen hatte. Für wenige Sekunden hatte sie einmal in einem Schülerausweis Hildes Bild gesehen: in der Majorshütte. Es musste dasselbe Mädchen sein, das jetzt im Spiegel aufgetaucht war.
War es nicht seltsam, dass ihr immer solche geheimnisvollen Dinge passierten, wenn sie zum Umfallen müde war? Also musste sie sich danach immer fragen, ob sie nicht phantasiert hatte.
Sofie legte ihre Kleider über den Stuhl und kroch unter die Decke. Sie schlief sofort ein. Und dann träumte sie einen seltsam starken und klaren Traum.
Sie träumte, sie stünde in einem großen Garten, der zu einem roten Bootsschuppen hinunterführte. Auf einem Steg beim Bootshaus saß ein blondes Mädchen und schaute über den See. Sofie ging zu ihr und setzte sich neben sie. Aber die Fremde schien ihre Anwesenheit nicht zu bemerken. »Ich heiße Sofie«, stellte sie sich vor. Aber die Fremde konnte sie weder sehen noch hören. »Du bist ja bestimmt taub und blind«, sagte Sofie. Und die Fremde war Sofies Worten gegenüber wirklich taub. Plötzlich hörte Sofie eine Stimme, die rief: »Hildchen!« Das Mädchen sprang vom Steg auf und lief zum Haus. Also konnte sie doch nicht taub oder blind sein. Aus dem Haus kam ihr ein Mann mittleren Alters entgegen. Er trug eine Uniform und eine blaue Baskenmütze. Die Fremde fiel dem Mann um den Hals und er wirbelte sie zweimal herum. Jetzt entdeckte Sofie am Rand des Steges, wo die andere gesessen hatte, eine Kette mit einem kleinen Goldkreuz. Sie hob sie hoch und legte sie in ihre Hand. Und damit erwachte sie.
Sofie sah auf die Uhr. Sie hatte zwei Stunden geschlafen. Jetzt setzte sie sich im Bett auf und dachte über diesen seltsamen Traum nach. Er war so stark und so klar gewesen wie ein wirkliches Erlebnis. Sofie war sicher, dass es das Haus und den Steg aus ihrem Traum irgendwo wirklich gab. Hatten sie nicht Ähnlichkeit mit dem Bild in der Majorshütte? Es stand jedenfalls fest, dass das Mädchen in ihrem Traum Hilde Møller Knag und der Mann ihr Vater gewesen war, der aus dem Libanon zurückkehrte. Im Traum hatte er ein wenig an Alberto Knox erinnert ...
Als Sofie aufstand, um ihr Bett zu machen, entdeckte sie unter dem Kopfkissen eine Goldkette mit einem Kreuz. Auf der Rückseite des Kreuzes waren drei Buchstaben eingraviert: »HMK«.
Sofie hatte natürlich nicht zum ersten Mal im Traum einen Schatz gefunden. Aber noch nie hatte sie einen Schatz aus ihrem
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