Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Traum herausreißen können.
»Verflixt!«, sagte sie laut zu sich selber.
Sie war so wütend, dass sie die Schranktür aufriss und die schöne Kette einfach zu dem Seidenschal, dem weißen Kniestrumpf und den Postkarten aus dem Libanon in den Schrank feuerte.
Am Sonntagmorgen wurde Sofie zu einem großen Frühstück mit warmen Brötchen und Apfelsinensaft, Eiern und italienischem Salat geweckt. Ihre Mutter stand sonntags nur selten früher auf als Sofie. Und dann war es Ehrensache für sie, ein solides Sonntagsfrühstück zu machen, ehe sie Sofie weckte.
Beim Frühstück sagte die Mutter:
»Im Garten ist ein fremder Hund. Der lungert schon den ganzen Vormittag bei der alten Hecke herum. Hast du eine Ahnung, wo der wohl herkommt?«
»Ja, sicher«, rief Sofie – und biss sich im selben Moment hart auf die Lippen.
»War der schon öfter hier?«
Sofie war schon aufgestanden und ans Wohnzimmerfenster gegangen. Richtig – Hermes hatte sich vor dem geheimen Eingang zur Höhle niedergelassen.
Was sollte sie jetzt sagen? Sie konnte sich keine Antwort ausdenken, ehe ihre Mutter auch schon neben ihr stand.
»Hast du gesagt, der wäre schon öfter hier gewesen?«
»Der hat hier wohl einen Knochen verbuddelt. Und jetzt will er seinen Schatz holen. Auch Hunde haben ein Gedächtnis ...«
»Ja, vielleicht, Sofie. Du bist die größere Tierexpertin von uns beiden.«
Sofie zerbrach sich den Kopf.
»Ich bring ihn nach Hause«, sagte sie dann.
»Weißt du denn, wo er wohnt?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Der hat sicher die Adresse auf dem Halsband stehen.«
Zwei Minuten später lief Sofie bereits durch den Garten. Als Hermes sie entdeckte, kam er auf sie zugejagt, wedelte wild mit dem Schwanz und sprang an ihr hoch.
»Braver Hund, Hermes«, sagte Sofie.
Sie wusste, dass ihre Mutter am Fenster stand. Wenn der Hund bloß nicht in die Höhle lief! Aber der rannte über den Kiesweg vor dem Haus, lief über den Hofplatz und zum Gartentor.
Als sie das Tor hinter sich zugemacht hatten, lief Hermes weiterhin zwei Meter vor Sofie. Jetzt folgte ein langer Spaziergang durch die Straßen des Viertels. Sofie und Hermes waren nicht die einzigen Spaziergänger. Ganze Familien waren unterwegs; Sofie verspürte einen Anflug von Neid.
Manchmal beschnüffelte Hermes einen anderen Hund oder etwas im Rinnstein, aber sowie Sofie ihm »Bei Fuß!« befahl, war er gleich wieder neben ihr.
Bald hatten sie das alte Schrebergartenviertel, den großen Sportplatz und den Spielplatz hinter sich gelassen. Sie erreichten eine belebtere Gegend. Hier führte eine breite Straße mit Kopfsteinpflaster und Straßenbahnschienen in Richtung Stadt.
Als sie die Innenstadt erreicht hatten, führte Hermes Sofie über den Marktplatz und durch die Kirchstraße. Sie erreichten die Altstadt mit ihren riesigen Mietskasernen aus der Zeit der Jahrhundertwende. Es war fast halb zwei.
Sie befanden sich jetzt am anderen Ende der Stadt. Sofie war noch nicht oft hier gewesen. Als sie noch klein war, hatte sie einmal irgendwo in der Gegend eine alte Tante besucht.
Bald erreichten sie einen kleinen Platz zwischen alten Mietshäusern. Der Platz hieß »Nytorget« – »Neuer Platz«, so alt hier alles auch war. Die Stadt selber war ja auch recht alt; sie war irgendwann im Mittelalter gegründet worden.
Hermes ging zum Eingang des Hauses Nummer 14, blieb stehen und wartete darauf, dass Sofie die Tür aufmachte. Sie spürte ein Ziehen im Bauch.
Im Treppenhaus hing eine Reihe von grünen Briefkästen. Sofie entdeckte eine Postkarte, die an einem Briefkasten in der oberen Reihe festgeklebt war. Ein Stempel des Postboten verkündete, die Adressatin sei unbekannt. Die Adressatin war: »Hilde Møller Knag, Nytorget 14...« Die Karte war am 15.6. abgestempelt. Bis dahin waren es noch zwei Wochen, aber das war dem Postboten offenbar nicht aufgefallen.
Sofie riss die Karte vom Briefkasten ab und las.
Liebe Hilde! Jetzt betritt Sofie das Haus des Philosophielehrers. Sie wird bald fünfzehn, während dein Geburtstag vielleicht schon gestern war. Oder heute, Hildchen? Wenn es heute ist, dürfte es wenigstens nicht zu spät am Tag sein. Aber unsere Uhren gehen nicht immer gleich. Eine Generation wird alt, während eine andere Generation heranwächst. Inzwischen geht die Geschichte ihren Gang. Hast du dir schon einmal überlegt, dass Europas Geschichte mit einem Menschenleben verglichen werden kann? Die Antike ist Europas Kindheit. Dann kommt das lange Mittelalter
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