Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
alle können sich einfach vom Strom der Geschichte mitschwemmen lassen, Sofie. Einige müssen auch innehalten und das aufheben, was an den Flussufern liegen bleibt.«
»Wie seltsam du das ausdrückst!«
»Aber es ist die Wahrheit, mein Kind. Wir leben nicht nur in unserer eigenen Zeit. Wir tragen auch unsere Geschichte mit uns. Vergiss nicht, dass alles, was du hier siehst, einstmals nagelneu war. Diese kleine Holzpuppe aus dem 16. Jahrhundert wurde vielleicht zum fünften Geburtstag eines Mädchens gemacht. Vielleicht von seinem alten Großvater ... Dann wurde sie zum Teenie, Sofie. Und dann war sie erwachsen und heiratete. Vielleicht bekam sie selber eine Tochter, die diese Puppe erbte. Dann wurde sie älter und eines Tages war sie nicht mehr. Vielleicht hatte sie ein langes Leben gelebt, aber jetzt war sie nicht mehr. Und sie kehrt nie mehr zurück. Im Grunde hat sie hier nur einen kurzen Besuch gemacht. Aber ihre Puppe – ja, die sitzt dort im Regal.«
»Alles wird so traurig und feierlich, wenn du das so ausdrückst.«
»Aber das Leben ist traurig und feierlich. Wir werden in eine wunderschöne Welt gelassen, treffen uns hier, stellen uns einander vor – und gehen zusammen ein Weilchen weiter. Dann verlieren wir einander und verschwinden ebenso plötzlich und unerklärlich, wie wir gekommen sind.«
»Darf ich dich was fragen?«
»Wir spielen jetzt nicht mehr Verstecken.«
»Warum bist du in die Majorshütte gezogen?«
»Damit wir keinen so weiten Weg hatten, als wir uns nur per Brief unterhalten haben. Ich wusste, dass die alte Hütte leer stand.«
»Du bist also einfach eingezogen?«
»Ich bin einfach eingezogen.«
»Dann kannst du vielleicht auch erklären, woher Hildes Vater gewusst hat, dass du dort wohnst.«
»Wenn ich mich nicht irre, dann weiß er fast alles.«
»Aber ich begreife trotzdem nicht, wie er den Postboten überreden konnte, die Post mitten im tiefen Wald zuzustellen?«
Alberto lächelte listig.
»Selbst das ist für Hildes Vater sicher nur eine Kleinigkeit. Billiger Hokuspokus, schnödes Narrenspiel. Wir leben vielleicht unter der allerstrengsten Überwachung der ganzen Welt.«
Sofie merkte, dass sie wütend wurde.
»Wenn der mir mal über den Weg läuft, dann kratze ich ihm die Augen aus.«
Alberto ging zum Sofa und setzte sich. Sofie folgte seinem Beispiel und nahm in einem tiefen Sessel Platz.
»Die Philosophie kann uns näher an Hildes Vater heranbringen«, sagte Alberto dann. »Heute werde ich dir über die Renaissance erzählen.«
»Schieß los.«
»Nur wenige Jahre nach dem Tod Thomas von Aquins begann die christliche Einheitskultur Risse zu werfen. Philosophie und Wissenschaft befreiten sich immer weiter von der kirchlichen Theologie und das brachte der Religion auch ein freieres Verhältnis zur Vernunft. Immer mehr Denker betonten jetzt, dass wir uns Gott nicht mit dem Verstand nähern könnten, denn Gott sei auf jeden Fall unfassbar für unser Denken. Es gehe für den Menschen nicht darum, das christliche Mysterium zu verstehen, sondern darum, sich Gottes Willen zu unterwerfen.«
»Ich verstehe.«
»Dass Religion und Wissenschaft ein freieres Verhältnis zueinander entwickelten, führte zu einer neuen wissenschaftlichen Methode und zu einer neuen religiösen Innigkeit. Auf diese Weise wurde das Fundament für zwei wichtige Umwälzungen des 15. und 16. Jahrhunderts gelegt, nämlich für die Renaissance und die Reformation .«
»Lass uns eine Umwälzung nach der anderen anschauen.«
»Unter Renaissance verstehen wir eine umfassende kulturelle Blütezeit, die gegen Ende des 14. Jahrhunderts einsetzte. Sie begann in Norditalien, verbreitete sich dann aber rasch nach Norden.«
»Hast du nicht gesagt, dass ›Renaissance‹ ›Wiedergeburt‹ bedeutet?«
»Doch, und das, was wiedergeboren werden sollte, waren die Kunst und die Kultur der Antike. Wir sprechen deshalb auch oft vom Renaissance-Humanismus : Jetzt stellte man nämlich, nach dem langen Mittelalter, das alle Lebensbedingungen in ein göttliches Licht gerückt hatte, wieder den Menschen in den Mittelpunkt. Das Motto lautete: ›Zurück zu den Quellen!‹ und die wichtigste Quelle war der Humanismus der Antike. Es wurde fast zum Volkssport, alte Skulpturen und Handschriften aus der Antike auszugraben. Es wurde auch zur Modesache, Griechisch zu lernen. Das führte zu einem erneuerten Studium der griechischen Kultur. Das Studium des griechischen Humanismus hatte nicht zuletzt ein pädagogisches Ziel: Das
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