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Sog des Grauens

Titel: Sog des Grauens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bagley Desmond
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sitzen.«
    »Es ist besser als in der Schlucht«, sagte Rawsthorne müde. »Wir haben wenigstens mehr Schutz als die Leute dort unten.«
    Es war so still gewesen während der Pause, daß sie ganz deutlich Stimmengemurmel von der Menschenmenge unten hören konnten. Manchmal war es mehr als ein Murmeln gewesen; als der Wind sich legte, hörten sie eine Frau aus vollem Hals schreien, in langen, klagenden Tönen. Sie hatte lange geschrien und war dann plötzlich still geworden. Julie hatte Rawsthorne angesehen, aber keiner hatte etwas gesagt.
    Sie hatte erwartet, die Leute würden den Berg heraufkommen, da die Flut doch das Tal unpassierbar gemacht hatte, aber nichts dergleichen war geschehen. »Sie sind Westinder«, sagte Rawsthorne. »Sie kennen Hurrikane – sie wissen, daß er noch nicht vorbei ist.«
    »Ich möchte wissen, wie der Krieg steht«, sagte Julie.
    »Der Krieg!« Rawsthorne stieß ein kurzes Lachen aus. »Es dürfte wohl keinen Krieg mehr geben. Hat Wyatt Ihnen erzählt, was bei einem Hurrikan aus St. Pierre würde?«
    »Er sagte, es würde eine Flut geben.«
    »Wir Engländer haben eine fatale Begabung für Untertreibungen. Wenn die beiden Armeen in St. Pierre kämpften, als der Hurrikan kam, dann gibt es keine Armeen mehr. Keine Regierungsarmee – keine Rebellenarmee; die vollkommene Lösung des Konflikts. Es könnten natürlich noch einige Reste vorhanden sein; versprengt und unbrauchbar und nicht einsatzfähig, aber der Krieg ist aus.«
    Julie sah durch blattloses Geäst zum grauen Himmel hinauf. Sie hoffte, daß Wyatt aus der Stadt herausgekommen war. Vielleicht war er irgendwo dort unten – an den Hängen des Negrito-Tals. Sie fragte: »Was ist wohl aus dem Stützpunkt geworden?«
    Rawsthorne schüttelte den Kopf. »Dasselbe«, sagte er. »Wyatt schätzte, daß die große Flutwelle den Stützpunkt vollkommen überfluten würde.« Er versuchte, sie aufzuheitern. »Commodore Brooks könnte es sich aber überlegt und den Stützpunkt doch noch geräumt haben. Er ist ja kein Trottel.«
    »Dave versuchte ihn zu überreden, aber er hörte nicht auf ihn. Er konnte an dem dummen Schelling nicht vorbeikommen. Ich glaube nicht, daß er evakuiert haben würde; er ist zu steif nackig – ein richtiger Mariner mit seinem ›Pfeif auf Torpedos!‹ und ›Pfeif auf Hurrikane!‹«
    »Ich hatte nicht diesen Eindruck von Brooks«, sagte Rawsthorne ruhig. »Und ich kannte ihn sehr gut. Er hatte eine sehr schwierige Entscheidung zu treffen, und ich bin sicher, daß er die richtige traf.«
    Julie sah zu dem hohen Baum am Rand der Schlucht und bemerkte, wie die obersten Äste vom Wind umgebogen wurden. Es würde bald Zeit sein, ihren Unterschlupf wieder aufzusuchen. Sie wußte, es hatte keinen Zweck, sich um Wyatt zu sorgen – sie konnte nichts für ihn tun –, und da war jemand viel näher bei ihr, der ihr Sorgen machte.
    Rawsthorne sah sehr krank aus. Sein Atem ging schlecht, und das Sprechen schien ihn anzustrengen. Die Röte war aus seinem Gesicht gewichen und hatte einem schmutzigen Pergament Platz gemacht, und seine Augen wirkten nur noch wie dunkle Löcher in seinem Kopf. Er konnte sich auch nicht mehr gut bewegen; seine Bewegungen waren langsam und unsicher, und seine Hände zitterten. Für die nächsten Stunden wieder bis auf die Haut durchnäßt zu sein war das Schlimmste, was ihm passieren konnte.
    Sie fragte noch einmal: »Wäre es nicht klüger hinunterzugehen?«
    »Es gibt dort keinen besseren Schutz, als wir hier haben. Die Schlucht bietet uns vollkommenen Schutz gegen den Wind.«
    »Aber das Wasser …«
    Er lächelte milde. »Meine Liebe, wir würden anderswo genauso naß werden.« Er schloß die Augen. »Sie machen sich Sorgen um mich, nicht wahr?«
    »Ja, das tue ich«, sagte Julie. »Sie sehen nicht besonders gut aus.«
    »Ich fühle mich auch nicht besonders gut«, gab er zu. »Es ist ein altes Leiden, das ich schon überwunden glaubte. Gewiß, mein Arzt hatte mir gesagt, ich sollte mich nicht überanstrengen, aber er hatte wohl nicht mit Kriegen und Hurrikanen gerechnet.«
    »Es ist Ihr Herz, nicht wahr?«
    Er nickte. »Über diese Berge rennen ist gut und schön für jüngere Männer. Sorgen Sie sich nicht, meine Liebe; Sie können nichts daran ändern. Ich will ganz bestimmt nicht mehr weiterrennen. Ich werde still unter diesem Wasserfall sitzen und warten, bis der Wind aufhört.« Er öffnete die Augen und sah sie an. »Sie haben eine große Liebesfähigkeit, Kind. Wyatt ist sehr

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