Sog des Grauens
glücklich zu schätzen.«
Sie errötete und sagte dann leise: »Ich weiß nicht, ob ich ihn je wiedersehen werde.«
»Wyatt ist ein sehr hartnäckiger Mensch«, sagte Rawsthorne. »Wenn er ein Ziel vor Augen hat, wird er sich nicht umbringen lassen – das würde seine Pläne durchkreuzen. Er war sehr um Sie besorgt, wissen Sie, an dem Abend, als die Kämpfe begannen. Ich weiß nicht, was ihn mehr beschäftigte, der Hurrikan oder Ihre Sicherheit.« Er tätschelte ihre Hand, und sie spürte das Zittern seiner Finger. »Er wird nach Ihnen suchen.«
Der Wind riß an den entlaubten Bäumen und trocknete die Tränen, die ihr plötzlich über die Wangen liefen. Sie schluckte schwer und sagte: »Ich glaube, wir sollten jetzt wieder in unser Loch kriechen; der Wind wird stärker.«
Rawsthorne blickte hoch. »Ich nehme an, wir müssen gehen. Es wird nicht angenehm sein hier draußen, wenn der Wind wirklich loslegt.« Er erhob sich mühsam, mit beinahe hörbarem Knirschen der Gelenke, und seine Schritte waren unsicher. Er hielt einen Augenblick an und sagte: »Auf ein paar Minuten wird es nicht ankommen. Ich habe wirklich nicht viel Verlangen nach dem Wasserfall.«
Sie gingen bis zum Rand der Schlucht und sahen hinunter. Das Wasser strömte immer noch über den großen Felsen, obwohl vielleicht nicht mehr ganz so stark. Rawsthorne seufzte. »Es ist kein bequemes Lager für alte Knochen wie meine.« Der Wind zauste sein spärliches Haar.
»Ich glaube, wir sollten hinuntersteigen«, sagte Julie.
»Noch ein Weilchen, meine Liebe.« Rawsthorne drehte sich um und sah über den vom Wind gepeitschten Berghang. »Ich meinte, ich hörte Stimmen in der Nähe – von dort oben.« Er zeigte zum Kamm in der Richtung von St. Pierre.
»Ich habe nichts gehört«, sagte Julie.
Der Wind nahm weiter zu und sang unangenehm in den Ästen der Bäume. »Vielleicht war es nur der Wind«, sagte Rawsthorne. Er lächelte mit zusammengebissenen Zähnen. »Haben Sie gehört, was ich eben sagte? Nur der Wind! Recht albern, so etwas in einem Hurrikan zu sagen, meinen Sie nicht? Schön, meine Liebe; wir wollen jetzt hinuntergehen. Der Wind wird nun wirklich stark.« Er ging zu dem hohen Baum hinüber und lehnte sich dagegen, während er an der Kante Halt für seine Füße suchte. Julie kam heran. »Ich werde Ihnen helfen.«
»Es geht schon.« Er ließ sich über die Kante hinunter und begann mit dem Abstieg, und Julie stand bereit, ihm zu folgen. Da kam ein Heulen wie das Geräusch eines Schnellzuges, als eine Bö über sie wegfegte, und von dem Baum kam ein ominöses Knarren.
Julie drehte sich um und sah hinauf. »Aufpassen!« schrie sie.
Der Baum war nicht fest verwurzelt; das vorbeirauschende Wasser hatte das Wurzelwerk unterspült, und es war dem plötzlichen Winddruck nicht gewachsen. Der Baum neigte sich, die Wurzeln rissen aus der Steilwand heraus, und der Stamm stürzte direkt auf Rawsthorne zu.
Julie stürzte vor und stieß ihn weg. Er verlor das Gleichgewicht, rutschte und fiel hinunter zwischen die Steinblöcke. Der Baum drehte sich im Fallen, und Julie erhielt von einem Ast einen schweren Schlag an den Kopf. Sie taumelte zurück, und der Baum fiel auf sie und zerschmetterte ihre Beine. Die Welt drehte sich um sie, alles war Chaos und Schmerz, und es gab ein Krachen und Brechen von Ästen beim Aufschlag auf den Boden. Dann verblaßten alle Geräusche, sogar das Heulen des Sturmes. Es wurde still um sie und grau und schließlich vollkommen schwarz.
Zuerst wußte Rawsthorne nicht, was los war. Er hörte Julies Schrei und fühlte sich dann in den Abgrund gestoßen. Er war völlig außer Atem von seinem Sturz und lag eine Weile und rang nach Luft. Er spürte eine Beklemmung in der Brust, ein alter Feind, der nichts Gutes verhieß, und er wußte, daß er sich nicht viel bewegen dürfte, sonst würde sein Herz nicht mitmachen. Aber nach einer Weile, als er wieder leichter atmete, setzte er sich auf und blickte nach dem Gewirr von Ästen am Rand der Schlucht.
»Julie!« rief er. »Wo stecken Sie?«
Seine Stimme klang erbärmlich dünn und verlor sich in dem Sturmgeheul. Er rief wieder und wieder, bekam aber keine Antwort. Er sah verzweifelt den Steilhang hinauf. Er mußte sich zwingen hinaufzuklettern, aber er bezweifelte, ob es ihm gelingen würde. Langsam begann er zu klettern. Er setzte seine Kräfte sparsam ein und ruhte sich oft aus, wenn er einen festen Halt für seine Füße fand.
Er kam fast bis nach oben.
Als er seine Hand
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