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Sog des Grauens

Titel: Sog des Grauens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bagley Desmond
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seinem Leben, die er nicht des Profites halber von einem eigenmächtigen Presseagenten in den Schmutz ziehen und verdrehen lassen würde. Oder von einem es duldenden, schäbigen Schriftsteller, mußte man auch sagen.
    Vielleicht würde er die Geschichte der letzten paar Tage auch selbst schreiben. Er hatte sich schon immer einmal an einen großen Stoff für ein Sachbuch wagen wollen. Er würde von Commodore Brooks berichten, von Serrurier und Favel, von Julie Marlowe und Eumenides Papegaikos und von den Tausenden, die von dieser Doppelkatastrophe von Krieg und Hurrikan erfaßt wurden. Und natürlich würde Wyatt zu der Geschichte gehören. Von ihm selbst würde wenig oder gar nichts darin vorkommen. Er hatte nichts weiter getan als Wyatt ins Gefängnis gebracht und rundherum nur Ärger gemacht. Das würde in dem Buch stehen – aber nichts von verlogenem Heroismus, nichts von Wisemans künstlicher Glorifizierung. Es würde ein gutes Buch werden.
    Er drehte sich um und drückte sich dichter an den Boden, um dem tosenden Sturm zu entgehen.
    ***
    Die Tagesstunden verstrichen, und wieder war San Fernandez dem Wüten des Hurrikans ausgeliefert. Wieder peinigte der ›große Wind‹ die Insel, jagte von der See herein und rüttelte an dem zentralen Gebirgsmassiv, als wollte er sogar diese mächtigen Berge in die See fegen, aus der sie einst aufgetaucht waren. Vielleicht trug der Hurrikan tatsächlich sein Teil zur Auslöschung dieser kleinen Insel bei – ein Bergrutsch hier, ein neuer Wasserlauf da, und ein Millimeter vom Gipfel des höchsten Berges im Massif des Saintes abgetragen –, aber das Land würde noch viele Hurrikane überstehen, bevor es endgültig besiegt würde.
    Das Leben war empfindlicher als die toten Felsen. Die weichen grünen Pflanzen wurden entwurzelt, aus dem Boden gerissen und vom Wind davongetragen; die Bäume brachen, und sogar die zähen Gräser, die sich in Klumpen mit langen, verzweigten Wurzeln hartnäckig festhielten, spürten, wie die Erde sich unter ihnen auflöste. Die Tiere in den Bergen kamen zu Hunderten um; die Wildtaube wurde von der Felswand gerissen und gegen den Stein geschleudert, der Wildhund winselte in seiner Felsenbehausung und scharrte vergeblich an dem Erdberg, der heruntergerutscht war und seinen Eingang verschüttet hatte, und die Vögel wurden von den Bäumen gefegt und vom Sturm davongetragen, bis sie schließlich weit draußen auf der See ertranken.
    Und die Menschen?
    An den Hängen des Negrito-Tals allein waren fast 60.000 Männer, Frauen und Kinder dem Wüten ausgesetzt. Viele starben. Die Alten und Müden starben an Unterkühlung, und die Jungen und Gesunden starben durch die Gewalt des Sturms. Manche starben durch eigene Dummheit, weil sie nicht Verstand genug hatten, sich eine geschützte Stelle zu suchen, und andere starben trotz Intelligenz durch schieres Pech. Andere starben an Krankheiten – Leute mit schwachen Herzen, schwachen Lungen oder sonstigen Leiden. Manche starben sogar an Schock; vielleicht kann man sagen, diese starben vor Überraschung über die rohe Gewalt der Natur.
    Aber es starben nicht so viele, wie umgekommen wären, wenn sie in der vernichteten Stadt St. Pierre geblieben wären.
    Zehn Stunden lang raste der Sturm über die Insel – der Hurrikan – der ›große Wind‹. Zehn Stunden, von denen jede Minute eine abstumpfende Ewigkeit von betäubendem Lärm und hämmernder Luft war. Man konnte nichts tun, als sich dicht an die Erde drücken und hoffen, daß man es überlebte. Wyatt und Dawson hockten in ihrer flachen Mulde hinter dem Felsen und ›saßen es ab‹, wie Dawson sich ausgedrückt hatte.
    Zuerst dachte Wyatt etwas erstaunt über das nach, was Delorme gesagt hatte, und er lächelte sardonisch. So wurden also Legenden gebildet. Ihm sollte die Rolle eines Retters, eines Helden von San Fernandez zufallen – des Mannes, der eine ganze Bevölkerung gerettet und einen Krieg gewonnen hatte. Er würde gepriesen werden für das Gute, das er getan hatte, und das Böse, das er nicht verhindern konnte. Offenbar hatte es Delorme ganz ehrlich gemeint. Für ihn waren Serrurier und alle seine Gefolgsleute Teufel in Menschengestalt und verdienten nichts Besseres, als sie bekommen hatten. Aber für Wyatt war Serrurier ein Geistesgestörter gewesen und seine Anhänger Menschen wie alle andern, wenn auch irregeführt, und er war es gewesen, der Favel die Falle gewiesen hatte, in die man sie locken konnte. Andere mochten ihm vielleicht

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