Sog des Grauens
San Fernandez einlade, sich in dem Stützpunkt in Sicherheit zu bringen. Er wird gleich fertig sein.«
»Ich werde den Brief abliefern«, sagte Wyatt.
Brooks nickte. »Wegen dieses Hurrikans – vielleicht hört Serrurier auf die Engländer. Vielleicht erreichen Sie etwas durch Rawsthorne.«
»Ich will es versuchen«, sagte Wyatt.
»Noch etwas«, sagte Brooks. »In einer großen Organisation erstarren die Arbeitsmethoden, und die Kanäle werden eng. Die Menschen sind nicht mehr geneigt, unangenehme Dinge zu hartnäckig zu vertreten. Scharfe Kanten verderben das Aussehen der Hülle, in der wir gemeinsam stecken. Ich bin Ihnen dankbar dafür, daß Sie mit dieser Sache zu mir gekommen sind.«
»Vielen Dank, Sir.«
Brooks sprach mit einer Spur von Ironie in seiner Stimme. »Commander Schelling ist ein zuverlässiger Offizier – ich weiß genau, was ich von ihm erwarten kann. Ich hoffe, Sie werden es nicht schwierig finden, auch in Zukunft mit ihm zusammenzuarbeiten.«
»Ich nehme es nicht an.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Wyatt; das ist alles. Ich werde den Brief für Mr. Rawsthorne in Ihr Büro schicken lassen.«
Als Wyatt zu seinem Büro zurückging, empfand er eine tiefe Bewunderung für Brooks. Der Mann war in einer Zwickmühle und hatte sich für ein kalkuliertes Risiko entschieden. Den Stützpunkt zu verlassen und ihn dem amerikafeindlichen Serrurier zu überlassen, würde ihm bestimmt den Zorn seiner Vorgesetzten eintragen – wenn Serrurier erst einmal drin wäre, könnte es schwierig, wenn nicht unmöglich sein, ihn wieder zu vertreiben. Andererseits war der Hurrikan eine reale Gefahr, und Untersuchungsausschüsse haben sich selten gnädig stimmen lassen, wenn Marineoffiziere Naturkatastrophen als mildernde Umstände vorbrachten. Der Stützpunkt konnte so oder so verlorengehen, und Brooks mußte eine kaltblütige und unumgängliche Entscheidung treffen.
Wyatt war nur unglücklich, weil Brooks seiner Meinung nach die falsche Entscheidung getroffen hatte.
***
Nicht ganz eine Stunde später fuhr er durch die Straßen von St. Pierre, in Richtung auf das Dockgebiet, wo Rawsthorne seine Wohnung und sein Büro hatte. Die Straßen waren ungewöhnlich still in der Dämmerung, und der Markt, gewöhnlich ein Ort voll lärmender Geschäftigkeit, war geschlossen. Es waren keine Soldaten zu sehen, aber viele Polizisten patrouillierten in Vierergruppen. Nicht daß sie viel zu tun gehabt hätten, denn die ganze Stadt schien sich hinter verschlossenen Türen und verriegelten Fensterläden versteckt zu haben.
Rawsthornes Haus war ebenfalls fest verschlossen und verriegelt und nur an dem schlaffen Union Jack zu erkennen, den jemand aus einem Fenster im oberen Stockwerk gehängt hatte. Wyatt pochte an die Tür, und es dauerte eine ganze Zeit, bis eine Stimme vorsichtig fragte: »Wer ist da?«
»Mein Name ist Wyatt – ich bin Engländer. Machen Sie bitte auf!«
Riegel wurden zurückgeschoben, und die Tür öffnete sich, erst einen Spalt weit und dann ganz. »Kommen Sie herein, Mann, kommen Sie herein! Sie sollten zu dieser Zeit nicht auf der Straße sein.«
Wyatt hatte Rawsthorne einmal getroffen, als er den Stützpunkt besuchte. Er war ein kleiner, gedrungener Mann, der dem Typ von Pickwick entsprach, und einer der beiden englischen Kaufleute auf San Fernandez. Sein Amt als britischer Konsul machte ihm nicht viel Mühe, da nur eine Handvoll Briten auf der Insel lebten, und seine konsularischen Bemühungen bestanden in der Hauptsache darin, gelegentlich einen betrunkenen Seemann aus dem Gefängnis auszulösen und ohne übermächtigen Eifer die Literatur über Cotswold-Dörfer und englische Volkstänze zu verteilen, die ihm das British Council zuschickte, um britische Lebensart zu fördern.
Er legte jetzt sein Haupt schief und sah Wyatt in dem Dämmerlicht des engen Eingangs aufmerksam an. »Kenne ich Sie nicht?«
»Wir sind uns auf Cap Sarrat begegnet«, sagte Wyatt. »Ich arbeite dort.«
»Natürlich; Sie sind der Meteorologe, der von unserem Wetterdienst ausgeliehen ist – ich erinnere mich.«
»Ich bringe einen Brief von Commodore Brooks.« Wyatt holte den Umschlag heraus.
»Kommen Sie in mein Büro!« sagte Rawsthorne und führte ihn in den muffigen Raum, der mit dunklen Möbeln aus dem neunzehnten Jahrhundert eingerichtet war. Ein Porträt der Königin starrte hinüber zum Herzog von Edinburgh, der an der gegenüberliegenden Wand hing. Rawsthorne schlitzte den Umschlag auf und sagte: »Warum hat mich
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