Sohn der Verdammnis: Die Chronik der Erzengel. Roman (German Edition)
versanden lassen, war vor einigen Jahren geschleift und durch einen kürzeren Damm und eine Stelzenbrücke von einem Kilometer Länge ersetzt worden. Zuvor war der alte Staudamm an der Mündung des Flusses Couesnon durch einen hydraulischen Gezeitendamm ersetzt worden. Eine Meisterleistung der Ingenieurskunst für schlappe hundertvierundsechzig Millionen Euro. Nick konnte über dieses Wunderwerk nur staunend den Kopf schütteln. Aber der Damm hatte jedenfalls verhindert, dass die Insel zu einem Teil des Festlands wurde.
Der Aston Martin fuhr auf den neuen zweispurigen Dammweg und hielt schließlich vor einem großen, schmiedeeisernen Tor, an dessen Spitze das goldene Wappen von Mont-Saint-Michel prangte – zwei Lachse, der eine nach rechts, der andere nach links blickend, vor einem doppelten Wellenband.
Nick blickte zu den Überwachungskameras hoch, die über dem Tor positioniert waren. Dann wandte er das Gesicht dem schwarzen Irisscanner zu, der sich automatisch diametral auf der linken Seite des Autos herabgesenkt hatte, und sah direkt in die Kameralinse.
Sechs Sekunden später öffnete sich elektronisch das Tor. Nick fuhr langsam an dem neu errichteten Pförtnerhaus mit seinen kugelsicheren Fenstern aus mehrschichtigem Polykarbonatglas vorbei.
Er war sich wohl bewusst, dass in den wenigen Sekunden, als er vor dem Tor gewartet hatte, jedes winzige Detail seines privaten und öffentlichen Lebens an den »Bunker« – die geheime Operationsbasis des Präsidenten der Europäischen Union – übermittelt worden war. Es handelte sich um einen ausgedehnten Komplex direkt unterhalb von Mont-Saint-Michel, hundert Meter unter dem Meeresboden. In diesen unterirdischen Räumen hatte der berüchtigte Gruber das Sagen, der allwissende Direktor des EU-Sicherheitsdienstes.
Nick fuhr über gewundene Kopfsteinpflasterstraßen durch das mittelalterliche Dorf. Es war nach Grubers strikten Sicherheitsvorschriften umgebaut und mit elektronischen Überwachungskameras und Sensoren ausgestattet worden, die von Dächern, Fenstern und Türen herunterlinsten. Doppelpatrouillen von Militärpolizisten mit Wachhunden durchstreiften ständig die Außenbereiche der Insel. Das Dorf beherbergte über zweihundert von Adrians engsten Mitarbeitern, darunter seinen Leiter des Sicherheitsdienstes und einige seiner wichtigsten Berater in Wirtschafts- und Rechtsfragen. Die mittelalterliche Fassade war nicht mehr und nicht weniger als das – eine Fassade.
Nick hielt schließlich vor den Stallungen an. Er stieg aus, schlug die Tür zu und warf die Schlüssel einem schmächtigen Mann in Chauffeurslivree zu, der sie geschickt auffing.
Als James De Vere noch gelebt hatte, war Pierre dessen Leibdiener gewesen. Nicks Vater hatte ihm fast so vertraut wie Maxim.
»Hallo, Pierre«, sagte Nick. »Bist du so nett, den Wagen für mich zu parken?«
Pierre deutete eine Verbeugung an.
»Natürlich«, erwiderte er und lächelte erfreut. »Schön, dich zu sehen, Master Nicholas.«
Er öffnete die Fahrertür des Aston Martin, setzte sich und stellte den Sitz höher.
»Wie geht es Beatrice?«, fragte Nick.
»Dickköpfig wie eh und je.« Pierre verzog das Gesicht, auch wenn seine Augen liebevoll funkelten. »Sie war schon in aller Herrgottsfrühe auf, um Striezel zu backen.« Er senkte die Stimme. »Vergiss um Gottes willen nicht, vor deiner Abfahrt bei uns vorbeizuschauen, sonst wird sie mir das Leben zur Hölle machen.«
Nick lächelte. Er erinnerte sich an den Familiensitz auf Rhode Island und an die Adventstage seiner Kindheit, als er sich immer in die Küche geschlichen hatte, wo Beatrice, die respekteinflößende Haushälterin der De-Vere-Familie, Weihnachtsstriezel backte. Er war unweigerlich mit gezücktem Nudelholz bedroht und hochkant aus der Küche geworfen worden.
»Das waren gute Zeiten, Master Nick … damals bei deinen Eltern.« Pierre drehte den Zündschlüssel. »Ach, die alten Zeiten!«
Nick sah dem roten Aston Martin hinterher, bis er in der fünften Garage der ehemaligen Stallungen verschwunden war. Er füllte seine Lungen mit der kühlen, feuchten Meeresluft. Anschließend ging er zu Fuß das kurze Stück zu einem der hoch aufragenden gotischen Torbögen von Mont-Saint-Michel hinauf.
Er blieb am Fuß des hohen, efeubewachsenen Festungswalls vor dem Gesichtserkennungsscanner stehen und wartete darauf, dass einer der vier dort umschichtig diensttuenden Mitarbeiter des Personenschutzes ihm den Zutritt freigab.
Langsam öffnete sich die
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