SO!KIA: Die vergangene Zukunft (German Edition)
seine Aufmerksamkeit wieder voraus, denn bisher lief alles so, wie es sollte.
Der Steuermann hing seinen Gedanken nach, dachte einen Augenblick an Irene, seine Verlobte, schloss ihren Vater, der wahrscheinlich irgendwo im australischen Busch den Kängurus das Leben schwermachte, mit ein. Und er dachte an damals, vor vier Jahren, als er das erste Mal allein als frisch von der Seefahrtschule gekommener dritter Offizier an Bord eines Frachters nachts im Kanal von Dover den „Alten“ sagen hörte: „Nun, Steuermann, Sie wissen ja, wo es lang geht, ich wünsche Ihnen eine gute Wache!“
Der Kapitän war damals schon von der Brücke im Niedergang verschwunden, als der dritte Offizier Jan Huber noch nach einer Antwort suchte.
Und nun? Nachts im Ärmelkanal. Keinerlei Hilfe seitens eines erfahrenen Vorgesetzten.
Nur ein Matrose, der erschüttert und doch lächelnd, oder täuschte Jan sich, den dritten in der Dunkelheit schräg anguckte. Mitleid?
Und dann auch noch dieser Mitläufer an Backbord voraus. Nur sein weißes Hecklicht war dicht über dem Heckwasser zu erkennen.
Welchen Kurs läuft der? Kommen wir ihm näher? Wo ist der Kieker?
Was tun, wenn wir zu dicht auflaufen und ihn überrennen?
Fragen über Fragen.
Fruchtlose Versuche, Schulweisheiten anzuwenden.
An Steuerbord, das Feuer von Dungeness und noch mehr weiße, grüne und rote Lichter.
Schiffe überall.
Alle Flotten dieser Welt, vereint, zum gleichen Zeitpunkt unter Englands Küste?
Und dann plötzlich der rettende Einfall.
Radar einschalten, Peilung des Gegners nehmen und so weiter, und so weiter, bis alles klar läuft.
Kurse ändern, wenn nötig.
Maschinenumdrehungen den Umständen anpassen.
Schulweisheit.
Peilung des Gegners steht.
Gefahr der Kollision.
Erfahrungswerte, dasselbe wie vorher.
Das Radar gab einen alles durchdringenden Ton von sich, wueng ... wueng ... wueng, und bei jedem Nulldurchgang auf dem Vorausstrich des grün glänzenden Radarbildschirmes dröhnte dieser durch Mark, Knochen, Gehörgänge und vielleicht noch woanders. Ein beschissenes Geräusch.
Die Tür im Rücken des „Dritten“ ging auf, der „Alte“ kam wutentbrannt auf die Brücke: „Wer hat Ihnen erlaubt, das Radar zu benutzen, können Sie nicht ohne Radar navigieren? Lassen Sie sich Ihr Lehrgeld wiedergeben!“
Radarschalter auf Null.
Stille.
Abgang des „Alten“.
Ängstliches Abwarten und Kalkulieren in der Dunkelheit, seitens eines frustrierten Offiziers.
Das Schicksal hatte ein Einsehen mit dem „Dritten“.
Alles ging gut, niemand wurde verletzt, kein Schiff versenkt, nur der junge dritte Offizier war seelisch gebrandmarkt.
Und während Jan diesen damaligen Horrorfilm vor seinem inneren Auge abspielte, hörte er plötzlich laut und deutlich aus dem Lautsprecher des UKWs ertönen: „MAYDAY, MAYDAY, MAYDAY, hier ist das Motorschiff!“
So ein Mist, das hat uns noch gefehlt. Nach der Lautstärke zu urteilen, dicht bei.
Jan blickte aus dem Steuerhausfenster hinaus in die dunkle Nacht und sah es sofort.
Die weißen Toplichter des Frachters an seiner Steuerbordseite, nun mittlerweile quer ab, schienen zur Seite gekippt, wippten in der groben See behäbig auf und ab.
Der Kahn dort drüben hatte eine deutlich starke Schlagseite nach Backbord.
Und wieder quäkte das UKW los: „MAYDAY, MAYDAY, MAYDAY, hier ist das zypriotische Motorschiff ANELIS CHRISTOPH auf der Position 45 Grad 15 Minuten Nord und 8 Grad 49 Minuten West, 123 Seemeilen nördlich Kap Finisterre, wir sinken. An unserer Backbordseite haben wir ein anderes Schiff. Hören Sie uns? Over!“
„Natürlich höre ich euch“, knirschte Jan durch zusammengebissene Zähne, ergriff das Interphon, drückte die Taste der Kapitänskajüte und hörte eine verschlafene Stimme fragen: „Was liegt an?“
„Kapitän, wir haben einen Notfall hundert Meter quer ab, ein Kahn geht zu den Fischen!“
„Ich komme, veranlassen Sie alles Notwendige, Steuermann!“
Jan schnappte nach dem UKW-Hörer, drückte die Sprechtaste: „MAYDAY RELAI, MAYDAY RELAI, ANELIS CHRISTOPH UND ALLE SEEFUNKSTELLEN, MAYDAY RELAI.“
Auf dem Sicherheitskanal 16 trat absolute Funkstille ein. Dann die ersten Reaktionen vonseiten der Küstenfunkstelle Brest Radio, danach wieder die Anelis Christoph mit ihrer Bitte um Beistand, dann ein, zwei, drei andere Schiffe, die ihre Hilfe anboten.
Der „Alte“ erstürmte die Brücke. „Wo ist der Havarist?“
„An Steuerbord, der Kahn, der uns am Überholen war, hat starke
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