Solang die Welt noch schläft (German Edition)
der Stadt waren.
»Du hast Blumen bestellt? Gut«, sagte Leon und sprang aus dem Wagen, um Isabelle den Schlag aufzuhalten. Was für ein Glück, dass Frauen an so etwas automatisch dachten!
»Keine Blumen«, sagte sie, während sie seine Hand ergriff und ausstieg. »Etwas Besseres.«
»Ein Lorbeerkranz?«, sagte Leon und hievte das wagenradgroße Teil in die Kutsche. » › Lorbeer ist ein bitt’res Kraut. Für den, der’s hat, und den, der’s braucht‹ – was ist das denn für ein seltsamer Spruch?« Irritiert schaute er Isabelle an.
»Nicht seltsam, sondern ein uralter Volksspruch«, erwiderte Isabelle schmallippig. »Jo wird verstehen, was ich ihr damit sagen will.« Als sich die Kutsche wieder in Bewegung setzte, schaute sie freudlos auf die vorbeiziehende Stadt.
Leon, der mit ihrer seltsamen Stimmung inzwischen vertraut war, seufzte. Ganz gleich, was er sagte oder tat, ganz gleich, wie viel Charme er an den Tag legte – seit Dänemark gelang es ihm nur noch selten, Isabelle zum Lachen zu bringen.
»Ich habe dem Tod in die Augen geschaut!«, hatte sie ihn angeschrien, als er sich über ihre schlechte Laune beschwerte. »Danach ist nichts mehr, wie es war, verstehst du?«
Ja, er verstand. Und nein, er verstand nicht.
Sie hatte überlebt. Warum also machte sie sich plötzlich so viele Gedanken über alles?
Was er ebenfalls nicht verstand, war seine Reaktion auf ihr seltsames Verhalten. Normalerweise wäre er bei einer launischen Frau längst über alle Berge gewesen. Aber Isabelle … Irgendetwas an ihr hielt ihn zurück. War es sein schlechtes Gewissen, in ihrer Stunde der Not nicht bei ihr gewesen zu sein?
Leon war kein Mann, der viel über sich und seine Gefühle nachdachte, aber dass ihn mit Isabelle mehr verband als mit seinen Liebschaften zuvor, das war ihm längst klargeworden. Die tizianroten lockigen Haare, die ihr bis zur Hüfte reichten. Die katzenhaft leuchtenden Augen, ihr voller Mund, dessen Oberlippe einen so kessen Schwung nach oben machte, dazu die akzentuierten Wangenknochen – Leon wurde nicht müde, Isabelle anzuschauen. Ein Körper, von dem jeder Mann träumte, dazu diese sinnliche Ausstrahlung … Ja, es war so, er konnte einfach nicht genug von ihr bekommen, und das hatte nichts mit einem schlechten Gewissen zu tun.
Doch es war noch mehr, was Isabelles Zauber für ihn ausmachte: die Tatsache, dass sie aus einem reichen Haus stammte, beste Sitten hatte, eine gute Schulbildung – all das waren Dinge, die Leon insgeheim sehr bewunderte, auch wenn er das nie laut zugegeben hätte. Dazu ihr Mut, sich gegen den Vater aufzulehnen, der Wille, sich ihr Leben nicht diktieren zu lassen. Waren sie sich darin nicht sehr ähnlich? Auch er hatte nicht vor, sich im elterlichen Weinbau zu Tode zu schuften! Zwei verwandte Seelen – bestand darin die Anziehungskraft zwischen ihnen? Oder spielte auch die Tatsache, dass Isabelle eine gute Partie war, eine Rolle? Eine reiche Ehefrau konnte zumindest nicht schaden, dachte er grinsend. Der Radsport war kostspielig, und wer genügend Geld hatte, konnte sich stets das neueste Material leisten und nach Herzenslust trainieren. Hätte er besseres Material gehabt, wäre ihm diese Susanne Lindberg gewiss nicht davongefahren! Es war wirklich an der Zeit, dass er sich ein neues Rad zulegte und sich informierte, was es an technischen Neuerungen auf dem Markt gab, damit ihm solch eine Schmach nie mehr widerfuhr.
Krampfhaft suchte Leon nach etwas, womit er Isabelle aufheitern konnte. Es kam selten vor, dass er um Worte verlegen war. Doch ehe er sich etwas einfallen lassen konnte, wies Isabelle auf Höhe der Siegessäule den Kutscher abermals an, an den Straßenrand zu fahren und anzuhalten.
Beide Arme vor der Brust verschränkt, schaute sie ihn mit mürrischem Blick an und sagte: »Wie hast du dir eigentlich unsere Zukunft vorgestellt? Glaubst du, ich bin ein Mädchen, das sich noch lange hinhalten lässt? Ich möchte Klarheit, verstehst du? Sicherheit. Ich möchte eine Zukunft haben. Eine Zukunft, für die es sich zu leben lohnt. Schau dich doch um!« Sie machte eine Handbewegung in Richtung der Stadt. »Alle haben Pläne, alle! Nur ich nicht.« Sie klang verzweifelt, aber auch ein wenig wie ein trotziges Kind.
Leon fand sie einfach zauberhaft. »Wer sagt denn das?«, hörte er sich antworten. »Du kommst mit mir, das ist doch klar. Berlin ist eine wunderbare Stadt, aber mir fehlen der Pfälzer Wald und die Berge. Es wird höchste Zeit, dass ich
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