Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
selbst, und wenn er schrie, rannte sie hin, hob ihn auf und redete beruhigend in Russisch auf ihn ein. Auch mit Feodora sprach sie jetzt Russisch. Die war einerseits irritiert, dass ihre Mutter sich plötzlich um sie kümmerte, andererseits selig, so etwas wie Zuwendung von ihr zu erfahren.
»Quäl doch das arme Kind nicht mit dieser Sprache«, wandte Leopold manchmal ein. »Siehst du nicht, wie schwer sie sich mit der Aussprache tut.« Es tat ihm vor allem weh, wenn Natascha ungeduldig und ungerecht reagierte, sobald die Kleine nicht sofort begriff, was sie meinte.
»Es kann ihr nicht schaden, eine zweite Sprache zu lernen. Ich musste mich in ihrem Alter mit Deutsch rumquälen«, war Nataschas Antwort.
Es dauerte nicht lange, dann sprach Feodora so gut Russisch wie Deutsch.
Rüdiger blieb ein schwächliches Kind, im Gegensatz zu seiner Schwester, deren Temperament kaum zu bändigen war. Sie lief jetzt wie ein Wiesel. Ständig versteckte sie sich irgendwo in dem Schloss, am liebsten hinter den schweren Vorhängen, und freute sich, wenn Else sie verzweifelt suchte. Nur wenn Feodora die Stimme ihres Vaters hörte, kam sie freiwillig heraus. Ihn liebte sie über alles, genauso wie Rüdi, wie sie ihren kleinen Bruder nannte. Manchmal erlaubte Natascha ihr, ihn zu halten. Dann trug sie ihn vorsichtig herum und sang ihm etwas vor.
Die Jagdsaison hatte begonnen. Feodora sah ihre Eltern jetzt kaum. Entweder waren sie unterwegs auf anderen Jagden, oder das Schloss war voll mit lärmenden Gästen, die manchmalwochenlang blieben. Da blieb nicht viel Zeit für die Kinder.
»Muss ich wirklich mit nach Weischkehmen zu den Goelders?«, fragte Natascha eines Morgens. »Ich würde viel lieber bei Rüdiger bleiben. In den letzten Wochen hatte ich ja kaum Zeit für ihn.«
»Ich bitte dich! Else kümmert sich doch rührend um die Kinder.« Leopolds Stimme klang ärgerlich. Warum drehte sich immer alles um den Jungen?
»Ach, sie ist so ein Trampel. Alles muss ich ihr dreimal erklären. Schrecklich, dass man sich mit so was abgeben muss.« Da war er wieder, der Dünkel, der Leopold so fremd war.
Er war leicht verstimmt. »Also bisher ist ja alles gut gegangen, und deshalb wird es auch diesmal nicht anders sein. Übrigens wartet bei den Goelders eine Überraschung auf dich.«
»So, was soll das denn sein?« Sehr neugierig klang die Frage nicht. »Charlotta, Gustav Goelders Schwester, wird aus St. Petersburg erwartet.«
»Was, die Fürstin Kropotkin kommt?« Natascha war ganz aufgeregt. »Ich kenne sie gut. Sie ist eine sehr interessante Frau und sehr schön.« Dass die Fürstin ständig ihre Liebhaber wechselte, verschwieg sie wohlweislich.
»Also, kommst du nun mit?«
»Natürlich! Ich freue mich ja so, Charlotta zu sehen. Und die Goelders sind ja auch wirklich reizend. Vor allem Gustavs Bruder, dieser Mathias!«
»Ja, ja, der Rotschopf. Ich weiß, er macht dir immer gewaltig den Hof.«
»Ach du.« Natascha schlug ihm leicht mit ihrem Spitzentaschentuch auf die Hand. »Er ist einfach so lustig. Er bringtmich ständig zum Lachen. Und ein sehr guter Tänzer ist er auch.«
Am selben Nachmittag traf Carlas erster Brief ein. » Dunedin, 28. Juni 1872
Ihr Lieben, vor ein paar Tagen sind wir endlich hier angekommen, ich halb tot und Hanno voller Tatendrang. Die Reise war schrecklich. Kaum ein Tag verging, an dem ich nicht seekrank war, und das über Monate. Ich sehe aus wie ein Gespenst. Dunedin liegt am Südpazifischen Ozean, habt Ihr das gewusst? Die Stadt habe ich noch gar nicht gesehen. Unser neues Heim ist etwas außerhalb, umgeben von einem verwilderten Garten, der bevölkert ist mit exotischen Vögeln. An den Bäumen hängen Früchte, die man essen kann (ich habe noch nicht gewagt, eine zu probieren!), und überall wachsen Blumen in den unglaublichsten Farben. Auf unserer Terrasse wohnt ein Papagei, der uns auf Deutsch mit ›Guten Tag, herzlich willkommen‹ begrüßt hat. Das sagt er allerdings jetzt ununterbrochen! Unser neuer Diener hat ihm das monatelang mühevoll beigebracht. Ich stehe hier inmitten unausgepackter Kisten und Koffer und weiß nicht, wo ich anfangen soll. Gott sei Dank ist auch hier kein Mangel an dienstbaren Geistern. Also werde ich das bald bewältigt haben. Eigentlich kann mich nichts mehr erschrecken nach dieser entsetzlichen Reise. Euer zweites Kind muss ja schon lange da sein. Hoffentlich bekomme ich bald von Euch eine Nachricht, ob es nun endlich der ersehnte Erbe geworden ist. Wie geht es
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