Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
sie. »Mal sehen, was es zu Hause Neues gibt.« Nachdem sie ein paar Zeilen gelesen hatte, wurde ihr Gesicht wachsweiß. Der Brief fiel zu Boden.
»Was ist?« Leopold sah seine Frau erschrocken an. »Ist etwas mit deinem Vater?«
»Nein.« Ihre Kehle schien wie zugeschnürt. »Ein alter Freund … Er hat sich duelliert. Er ist tot.« Dann verlor sie das Bewusstsein.
Kurz darauf setzten die Wehen ein. Konrad Grüben und Erna Kubischke trafen fast gleichzeitig auf Troyenfeld ein. Entsetzt über die zu frühe Geburt des Kindes hatte Leopold nach beiden schicken lassen. Konrad Grüben sah zuerst nach Natascha. Doch die Hebamme schickte ihn wenig später fort. »Kümmer du dir mal um den werdenden Vater, der sieht jar nich jut aus«, sagte sie resolut. »Ik mach dat hier schon. Wenn ik dir brauche, lass ik dir rufen.«
»Was ist passiert?«, fragte der Arzt seinen alten Freund, als er den kleinen Salon betrat. »Was könnte die plötzlichen Wehen ausgelöst haben?«
»Du kannst doch Russisch.« Leopold hob den Brief auf, der immer noch am Boden lag, und reichte ihn Grüben. »Bitte lies.«
»Aber er ist an Natascha …«
»Natürlich, er ist in kyrillischer Schrift. Deshalb bitte ich dich ja, ihn mir vorzulesen.«
»Ich weiß nicht, Leopold …«
»Findest du nicht, dass ich ein Recht darauf habe zu erfahren, was meine Frau für Geheimnisse hat?« Er goss sich ein großes Glas Cognac ein. »Dieser Brief ist der Grund dafür, dass mein Kind vielleicht nicht überlebt.«
»Natascha mein Täubchen« , begann Konrad stockend. » Du musst jetzt ganz stark sein. Dein Pjotr lebt nicht mehr. Wassily Kralnikow hat ihn mit seiner Frau erwischt und zum Duell mit Pistolen gefordert. Wassily war der bessere Schütze.«
Leopold saß zusammengesunken in seinem Sessel. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen.
Sein Freund sah ihn mitleidig an. »Soll ich wirklich weiterlesen?«
»Ja, ich will alles wissen.« Seine Stimme war nur noch ein Krächzen.
»Ich weiß, Du hast ihn geliebt, mein Täubchen« , fuhr Konrad fort, »aber ich habe Dir immer gesagt, er ist ein Tunichtgut. Niemals hätte er seine Versprechen gehalten, glaube mir. Es fällt mir nicht leicht, es Dir zu sagen, aber ich bin froh, dass es so gekommen ist. Du hast einen guten Mann …«
»Es ist genug«, sagte Leopold. »Nun weiß ich, was ich immer geahnt habe und nicht wahrhaben wollte. Nataschahat mich nie geliebt. Mit dieser Gewissheit werde ich jetzt wohl leben müssen.«
In dem Moment stürzte Alfons herein. »Herr Graf, Sie haben einen Sohn. Er lebt!«
Kurz darauf erschien hinter ihm die Hebamme. Ihr liebes, pausbäckiges Gesicht strahlte. »En bisken misrig is et ja, dat Kleinerchen. Aber et is allet dran. Wird schon noch ein strammet Jungchen werden.« Sie reichte Leopold das in weiße Tücher gewickelte kleine Wesen. »Und rote Haare hat er och nich. Blond isser, wie du.«
Konrad Grüben hatte erst kurz nach Natascha gesehen und dann das Kind untersucht. »Deine Frau schläft jetzt, ich habe ihr ein Mittel gegeben. Die Geburt hat sie sehr erschöpft. Und mit dem Kind ist so weit alles in Ordnung«, sagte er zufrieden, als er wiederkam. »Es ist zwar noch ein wenig klein, aber das wird sich geben. Ich habe Natascha gesagt, sie soll ihm sooft wie möglich die Brust geben.«
»Was, meine Frau will selbst stillen?«
»Ja, sie hat die Amme abbestellt. Ich war auch ganz erstaunt. Ach, noch etwas. Wenn es wärmer wird, muss das Kind sooft wie möglich an die frische Luft.«
Alfons erschien unaufgefordert mit einer Flasche Champagner. »Darf ich den Herren einschenken?«, fragte er aufgeregt.
»Danke, Alfons.« Leopold lächelte. »Natürlich. Das müssen wir begießen. Und sagen Sie in der Küche und auf dem Hof Bescheid. Schnaps für alle. Der Erbgraf ist da.«
Die Männer prosteten sich zu.
»Halt die Ohren steif, alter Knabe. Nimm es nicht zu schwer. Du hast jetzt den ersehnten Erben, und Feodora ist ein kerngesundes Mädchen, das dir doch so viel Freudemacht«, versuchte Konrad Leopold aufzumuntern. Er nahm seinen Freund in den Arm. »Vielleicht wird ja jetzt alles gut. Ich werde alle paar Tage nach euch sehen. Und wenn du reden willst, ich bin immer für dich da.«
Eine ganze Woche lang schloss Natascha sich mit dem Neugeborenen in ihrem Boudoir ein. Nur Olga und Konrad Grüben durften zu ihr.
»Dem Kind geht es gut«, sagte Konrad zu Leopold, der sich in einem schrecklichen Zustand befand, »und deiner Frau auch, jedenfalls
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