Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
eigentlich Carlas Hang zum Personal?«, fragte sie spitz. »Wir in St. Petersburg verkehren nicht mit unseren Dienstboten.« Es war das erste Mal, dass sie nach dem Verhältnis ihrer Schwägerin zu Emma fragte.
»Als meine Mutter im Kindbett starb, war mein Vater erstarrt in seinem Schmerz. Ich muss es leider sagen: Er interessierte sich danach nur noch für mich, den Erbgrafen.« Leopold machte eine nachdenkliche Pause. »Carla war damalsgerade fünf Jahre alt. Es gab noch keine Gouvernanten und Lehrer im Schloss. Sie war ganz auf sich allein gestellt und trieb sich in den Gesinderäumen und der Küche rum. Und da hat sich Emma, die gute Seele, ihrer angenommen. Elfriede war genauso alt wie Carla, und sie haben zusammen gespielt.«
»Und das hat dein Vater zugelassen?«
»Ich sage dir doch, es war ihm egal. Und die Kinder kannten keine Standesunterschiede.« Leopolds Stimme klang jetzt scharf. »Ich bin Carla dankbar für die Liebe und Zuwendung, die sie mir gegeben hat, und genauso dankbar bin ich Emma für die Liebe und Zuwendung, die sie ihr gab.« Er holte tief Luft. »Man nennt das Herzenswärme. Aber was das ist, scheint dir ja fremd zu sein.« Er erhob sich. »Entschuldige mich. Ich werde jetzt Emma Bescheid geben. Ich weiß, sie sorgt sich um Carla.«
Natascha war wie erstarrt. So hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Vielleicht hatte sie ihn mit ihrer Kritik an seiner Schwester gereizt. Aber sie war immer noch wütend, dass er ihr nicht mehr gestattete, allein nach St. Petersburg zu reisen. Seit einiger Zeit fürchtete sie, jemand könnte ihm die Augen geöffnet haben, dass sie nicht nur wegen ihres Vaters so sehr an ihrer Heimat hing.
Am Abend war Leopold wieder zuvorkommend und liebevoll. »Na, wie geht es meiner schönen Frau und unserem Stammhalter?«, fragte er und streichelte ihr zärtlich über den sich langsam rundenden Bauch.
Natascha war erleichtert. »Danke, es geht uns beiden gut. Der Herr strampelt schon ein wenig.« Sie sei jetzt im vierten Monat, hatte Konrad Grüben ihr gesagt und den Geburtstermin auf Anfang Mai festgelegt. Bis auf ein leichtes Unwohlseinin den ersten Wochen der Schwangerschaft fühlte sie sich sehr gut. Diesmal hatte sie das gemeinsame Schlafzimmer nicht verlassen und sich auch Leopolds Zärtlichkeiten nicht entzogen. Sie beschloss, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Wenn der so heiß ersehnte Sohn da war, würde sie weitersehen. Immer wieder hatte Pjotr ihr in seinen Briefen versprochen, sie zu sich zu holen, wenn die Zeit dafür gekommen war. Sie erhielt regelmäßig Post aus St. Petersburg. Dann war sie besonders heiter, lachte und scherzte mit Feodora, der sie sonst wenig Beachtung schenkte. Kam jedoch längere Zeit kein Brief, wurde sie unruhig und übellaunig, was sie an den Dienstboten und manchmal auch an ihrer Tochter ausließ.
Es war an einem Nachmittag Anfang April. Noch immer hatte der Winter das Land fest im Griff. Leopold und Natascha saßen im kleinen Salon vor dem Kamin. Zu ihren Füßen spielte Feodora mit ihren Bauklötzen. Vor Kurzem hatte sie angefangen zu laufen, und ständig musste man aufpassen, dass sie nicht hinfiel.
»Hoffentlich ist der schreckliche Winter bald vorbei.« Natascha schaute von ihrem Buch auf. »Ich brauche dringend etwas Sonne.«
»Lange kann es nicht mehr dauern.« Leopold ließ die Zeitung sinken. »Das Barometer ist gestiegen. In wenigen Tagen wird es wärmer werden, und dann kommt der Frühling ja immer sehr schnell, wie du weißt.« Er war aufgesprungen. »Mein Gott, Feda, mein Liebling«, schrie er entsetzt. Das Kind hatte sich unbemerkt an einem Stuhlbein hochgezogen und wäre beinahe rückwärts in den Kamin gestürzt. »Du musst aufpassen, mein kleiner Liebling«, sagte Leopold immerwieder und drückte das Kind an sich. »Das Feuer ist gefährlich.« Er drehte sich zu Natascha. »Mein Gott, sie hätte sich verbrennen können.«
»Was regst du dich so auf«, sagte Natascha ungerührt. »Es ist doch gar nichts passiert.«
Leopold sah sie verständnislos an. »Nichts passiert, sagst du? Fast wäre sie in den Kamin gefallen, hast du das nicht gesehen?«
»Ja, aber nur fast.« Natascha vertiefte sich wieder in ihr Buch, während Leopold versuchte, das Kind zu beruhigen, das die ganze Aufregung nicht verstand.
In dem Moment klopfte Alfons und brachte die Post. »Wieder nichts von Carla«, sagte Leopold bedauernd, »aber ein Brief für dich.« Er reichte Natascha ein dickes Kuvert. »Ah, von Väterchen«, strahlte
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