Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
Stimmung wurde immer ausgelassener. Als bald darauf Agathe die Tafel aufhob, waren einige der Gäste nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Aber das störte keinen. Das war so üblich in Ostpreußen. Die Herren begaben sich in die Bibliothek, wo Meier Cognac und Schnaps servierte. Man steckte sich genüsslich die obligatorische Zigarre an und plauderte über Politik. Auch das gehörte zu so einem Abend. Die Damen tranken im Salon Mokka und Likör und konnten nun, endlich unter sich, über das reden, was sie am meisten interessierte: Klatsch und Mode.
»Woher hast du das fabelhafte Kleid, Natascha?«, fragte Kunigunde von Orlov. »Doch nicht etwa aus Königsberg.«
»Nein, wirklich nicht!« Nataschas Ton war fast ein wenig beleidigend. »Es ist von Charles Worth aus Paris. Wir haben auf unserer Hochzeitsreise dort eingekauft.«
»Was, du warst in seinem Salon? Erzähl doch mal. Worth soll ja schrecklich exzentrisch sein«, sagte eine andere.
»Ja, das hatte ich auch gehört. Aber er war reizend, und als ich auch noch einige seiner neuesten Kreationen bestellt habe – ihr wisst, er macht jetzt kaum noch Kleider mit Krinoline, sondern mit einer Tournüre –, da war er ganz entzückt.«
Natascha wurde mit Fragen bestürmt. War sie doch eine Person, die persönlich (!) bei dem berühmtesten Modeschöpfer der Welt gewesen war – Informationen sozusagen aus erster Hand und nicht aus der Gartenlaube oder einer anderen Zeitschrift. Bereitwillig beantwortete sie alle Fragen.»Stellt euch vor, er hat eine Vorführdame, Mannequin nennt er sie. Die läuft mit den neuesten Modellen durch den Salon, und dann kann man danach bestellen.«
»Er ist wirklich ein Künstler, dieser Worth«, sagte Charlotta. »Ich werde ihm ewig dankbar dafür sein, dass er uns endlich von der Krinoline befreit. Mein Gott, was habe ich immer für ein Gepäck, wenn ich auf Reisen gehe. Schrecklich! Das wird ja dann bald besser werden.«
»Habt ihr schon die neue Gartenlaube bekommen?«, fragte Amalie. »Es gibt darin eine neue Folge von Eugenie Marlitts Roman Goldelse . Den müsst ihr lesen.«
Charlotta machte ein gelangweiltes Gesicht. Goldelse , so etwas las sie nun wirklich nicht! »Natascha, ich habe ein wunderbares Buch für dich, auf Russisch. Krieg und Frieden von Lew Nikolajewitsch Tolstoi, einem entfernten Verwandten meines Mannes. Du wirst es verschlingen.«
»Wie schade, dass es auf Russisch ist«, rief Kunigunde, die sich sehr für moderne Literatur interessierte.
»Sicher wird sich bald ein deutscher Verleger dafür finden«, meinte Charlotta. »Das Buch ist einfach fabelhaft. Ich konnte gar nicht aufhören zu lesen.«
»Na, hoffentlich ist bald ein deutscher Verlag interessiert.« Kunigunde war ganz aufgeregt. »Gib mir Bescheid, wenn du etwas darüber hörst.« Nachdem ein Diener Likör und Mokka nachgeschenkt hatte, fragte sie: »Wer von euch kennt Madame Bovary ? Ich habe das Buch geradezu verschlungen.«
Einige der Damen hatten es auch gelesen, und so entspann sich eine kurze Diskussion über Emma Bovary, die Hauptperson des Buches. »Ohne Liebe geht es halt nicht«, sagte Amalie.
»Wenn ich meinen Gustav nicht so lieben würde, hätte ich vielleicht auch einen Liebhaber …«, meinte Agathe.
»Oder zwei …« Marike Grüben, die sich bereits den vierten Likör genehmigte, kicherte.
Nur Charlotta und Natascha schwiegen dazu.
Die Damen vertieften das Thema weiter.
»Na, was ich da gerade über die Frau des Apothekers gehört habe …«
»Also, die Frau vom Schuldirektor aus Insterburg ist kürzlich in Königsberg gesehen worden … in einer sehr kompromittierenden Situation!«
Währenddessen fragte Charlotta Natascha leise auf Russisch: »Wollen wir morgen mal reden, allein?«
»Gern, aber wann und wo? Es sind ja immer Leute um uns herum.«
»Lass mich mal machen, ich finde schon einen Weg.«
Kurz darauf löste sich die Gesellschaft auf. Alle mussten schließlich wieder früh raus.
Es war noch stockfinster, als ein Diener an die Türen klopfte. »Fünf Uhr«, rief er laut. »Das Frühstück ist im Gartenzimmer angerichtet. Abfahrt ist in fünfundvierzig Minuten.«
»O Gott«, stöhnte Natascha. »Mir ist, als wäre ich gerade erst zu Bett gegangen.« Mühsam befreite sie sich von dem dicken Plumeau.
»Du solltest dich etwas beeilen«, sagte Leopold, der bereits fertig angezogen vor ihr stand. »Man wird nicht auf dich warten, wenn zur Abfahrt geblasen wird.«
»Ich bin ja schon dabei.« Natascha gähnte
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