Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
herzhaft. »Was ist denn das für ein Lärm?« Von unten drang bereits dröhnendes Gelächter zu ihnen herauf.
»Gustav erzählt wahrscheinlich die neuesten Witze«, klärte Leopold sie auf. »Ein paar davon hat er bereits gestern Abend zum Besten gegeben. Sein Kutscher Bruno versorgt ihn ständig mit neuen Witzen. Weiß der Teufel, wo der die herhat.«
Natascha hob indigniert die Augenbrauen. Witze! Nicht zu fassen, worüber Männer sich amüsieren konnten.
Bruno hatte schon mehrere Male »Wir müssen jetzt!« gerufen, und die ersten beiden Wagen setzten sich bereits unter lauten Weidmannsheil-Rufen in Bewegung, als es Natascha gerade noch gelang, auf den letzten Wagen aufzuspringen. Auf säumige Damen wurde bei solchen Gelegenheiten keine Rücksicht genommen. Auch nicht auf russische Fürstinnen!
Es war gegen Mittag, als die Jagdgesellschaft zurückkam, glücklich und aufgedreht von all dem Erlebten. Im Gartensaal war der Tisch gedeckt. Große Terrinen mit einer dampfenden Erbsensuppe verbreiteten einen köstlichen Duft, und unter lauten Rufen – »Gott, hab ich einen Hunger!«, »Ich könnte ein ganzes Ferkel verdrücken …« oder »Hm, riecht das gut …« – setzte man sich. Nach der Suppe wurden riesige Platten mit Sülzen, Blut- und Leberwürsten, Pasteten und Geselchtem serviert, und dazu gab es reichlich Schnaps. Die Lautstärke nahm zu, man schwadronierte über das gerade Erlebte.
Als die Geschichten immer abenteuerlicher wurden, erhob sich Charlotta. »Ich werde mich jetzt verabschieden«, sagte sie laut. »Ich brauche meinen Schönheitsschlaf.« Sie blickte Natascha an. »Du siehst auch müde aus, meine Liebe. Komm mit. Ich gebe dir noch den versprochenen Roman, und dann solltest du dich auch ein wenig hinlegen. Ichfürchte, mein Bruder Mathias wird dich den ganzen Abend betanzen. Das ist anstrengend.«
Bevor einer der Herren etwas sagen konnte, waren die beiden schon durch die Tür geschlüpft.
»Das hast du fabelhaft gemacht«, sagte Natascha fröhlich und hakte sich bei Charlotta unter. »Endlich können wir mal ungestört miteinander reden.«
Die beiden Frauen machten es sich in Charlottas Reich bequem. »Hier darf niemand etwas verändern«, sagte sie. »Unsere Eltern haben mir in ihrem Testament ein lebenslanges Wohnrecht auf Weischkehmen vermacht. Ich drohe immer damit, im Alter zurückzukommen.« Sie lachte. »Verrat mich nicht, ich denke nämlich nicht im Traum daran.«
»Du weißt von mir und Pjotr?«, fragte Natascha.
»Meine Liebe, ihr wart Stadtgespräch. Außer Olga, Pjotrs Frau, wusste es jeder.« Sie füllte einige Teeblätter in ein großes Glas, das sie mit heißem Wasser aus ihrem brodelnden Samowar auffüllte. »Möchtest du auch?«
Natascha schüttelte den Kopf.
»Weißt du eigentlich, dass deine überstürzte Heirat mit Leopold einen handfesten Skandal verhindert hat? Olgas Vater – du weißt, die Familie ist mit den Romanows verwandt – hat Pjotr angedroht, ihn nach Sibirien zu schicken, wenn er die Affäre mit dir nicht beendet.«
Nataschas Gesicht war schneeweiß. »Er hat mir gesagt, er hätte ein großes Erbe zu erwarten. Dann würde er sich von Olga trennen und mich nach St. Petersburg zurückholen. Aber für eine Weile wäre es gut, wenn ich nicht in der Stadt bliebe.«
Charlotta blickte sie ungläubig an. »Und das hast du geglaubt? Ein Erbe, von wem denn? Ich fasse es nicht! Er warStallbursche auf dem Gut von Olgas Großeltern. Sie wollte ihn haben! Nur ihn! Ihr Vater hat ihn für sie gekauft. Das ist eine Tatsache.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Was meinst du denn, warum er sie geheiratet hat? Sie ist ja nun wahrlich keine Schönheit. Für diesen gesellschaftlichen Aufstieg hätte er eine Kuh geehelicht.«
»Es ist schrecklich, was du da alles sagst.« Nataschas Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ich hätte ihn auch genommen, egal wo er herkommt.«
»Wenn du ihn vor Olga getroffen hättest, wärest du heute Witwe, meine Liebe. Du kannst wirklich froh sein, dass dieser Kelch an dir vorübergegangen ist.«
»Mich hat er geliebt!«
»Das denken die anderen, die er in all den Jahren beglückt hat, auch.«
Natascha fühlte sich elend. »Ich kann das gar nicht glauben …«
»Ach, du armes Schäfchen.« Charlotta blickte sie mitleidig an. »Du musst ihn vergessen. Er ist es wirklich nicht wert, so um ihn zu trauern. Ich muss zugeben, er sah blendend aus, aber er war ein Parvenü, ein Charakterschwein.« Sie zündete sich einen Zigarillo an.
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