Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
vom Schnee verhüllt und sahen aus wie stumme weiße Wächter. Überall im Schloss brannten die Kamine, die von Dienern Tag und Nacht in Betrieb gehalten wurden. Bereits am frühen Nachmittag brach die Dämmerung herein, und die Lampen mussten angezündet werden.
Fräulein von Pulkendorf und Feodora saßen im Kinderzimmer, ganz nah am prasselnden Feuer, und wärmten sich die klammen Hände und Füße. Sie hatten ihren täglichen halbstündigen Spaziergang im Schlosspark hinter sich.
»Ich werde Alfons bitten, uns einen heißen Tee zu bringen«, sagte die Gouvernante. »Und wenn deine Finger aufgetaut sind, zeige ich dir, wie man ein Monogramm stickt.«Sie hatte Feodora vorgeschlagen, ihren Eltern zu Weihnachten ein von ihr besticktes Taschentuch zu schenken.
Aus dem großen Salon klang leises Klaviergeklimper herüber. Rüdiger absolvierte seine ungeliebte Klavierstunde bei Herrn Seidel.
»Hast du denn gar keine Freunde?«, fragte Fräulein von Pulkendorf, nachdem Alfons den Tee serviert und den Raum wieder verlassen hatte.
»Doch«, sagte Feodora. »Ida Henkiel. Aber die wohnt in Klein Darkehmen, und ich sehe sie nur ganz selten.«
»Und hier in der Nähe des Schlosses gibt es niemanden?«
»Doch«, flüsterte Feodora jetzt. »Aber das darf ich nicht verraten.«
»Warum denn nicht, ist das ein Geheimnis?« Die Gouvernante lächelte amüsiert.
Feodora nickte ernst. »Elfriede hat gesagt, niemand im Schloss darf das wissen.«
»Elfriede, die Mamsell, ist deine Freundin …?«
»Nein … ja … auch.« Und nach einem kurzen Zögern fügte sie hinzu: »Wenn du mich nicht verrätst, sage ich es dir.«
»Großes Ehrenwort. Ich sage nichts!«
»Es ist Fritzchen, der Sohn von Elfriede.« Ihre Stimme war kaum noch zu hören.
»Und warum darf das keiner wissen?«
»Elfriede meint, Maman würde es nicht wollen …«
Da könnte sie recht haben , dachte die Gouvernante. Freundschaften hatten standesgemäß zu sein, um von den Eltern geduldet zu werden. »Vermisst du deinen Spielkameraden denn sehr?«, fragte sie Feodora.
»Manchmal schon …«
»Und du hast ihn wohl schon lange nicht mehr gesehen?«
Das Kind lief jetzt rot an. »Du verrätst mich auch wirklich nicht?«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Mein Ehrenwort gilt.«
»Vorgestern, als du mit Maman in Insterburg warst, bin ich zu Elfriede in die Küche gegangen. Und da war Fritzchen und hat Hausaufgaben gemacht.«
»Ah, er geht in die Schule?«
»Ja, im nächsten Dorf. Er will Gendarm werden!« Feodora war mächtig stolz darauf, einen Freund zu haben, der so einen fabelhaften Beruf anstrebte.
»Das ist wirklich großartig. Und habt ihr dann ein wenig zusammen gespielt?«
»Ja.« Wieder flüsterte Feodora. »Der Teich hinter der Scheune ist zugefroren. Wir sind dort hin und sind Schlittschuh gelaufen. Aber als Elfriede euren Schlitten gehört hat, ist sie schnell gekommen und hat mich geholt.«
Fräulein von Pulkendorf lachte laut auf. »Deshalb hast du so rote Backen gehabt, als wir ankamen. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil du gestern auf deinen Spaziergang verzichten musstest.« Sie machte ein verschwörerisches Gesicht. »Jetzt hör mal gut zu. Deine Eltern gehen übermorgen für einige Tage zu den Orlovs auf die Saujagd. Dann kannst du nach dem Mittagessen raus und mit Fritz spielen, wenn du mir versprichst, mich nicht zu verraten.«
»Danke, danke.« Feodora fiel ihrer Gouvernante um den Hals.
»Und noch etwas. Bei Dunkelheit bist du wieder zu Hause.«
»Ja, ja!« Das Kind war glücklich. Es hatte eine Verbündete!
Der Gouvernante war klar, dass sie damit ihre Stellung riskierte. Aber sie konnte nicht anders. Sie hatte zu großes Mitleid mit dem Kind.
1879
F
ast acht Jahre lebten die Harvichs jetzt in Neuseeland. Alle sechs Monate kam ein dicker Brief von Carla. »Wir haben viele neue Freunde gefunden«, schrieb sie. »Unsere Nachbarn, eine Familie Wakerfield, sind reizende Engländer. Sie leben schon in der zweiten Generation hier, und so haben wir Land und Leute bestens kennenlernen können.« Aber immer wieder klang bei Carla ihr Heimweh nach Ostpreußen durch. »Hanno wird bald fünfundsechzig, und ich hoffe doch, dass er sich irgendwann entschließt, seinen Posten aufzugeben und wieder nach Hause zu gehen. Im Moment sieht es aber leider noch nicht danach aus …«
Feodora, die längst selbst die Briefe ihrer Tante lesen konnte, hatte von den Hauslehrern, die jedes halbe Jahr wechselten, alles über das ferne Neuseeland
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