Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
Schinken, Pasteten und Sülzen. Das auf den Jagden geschossene Wild kam zum Teil sofort auf den Tisch und eine nicht unbeträchtliche Menge in die Kühlkammern für den langen Winter. Der Rest wurde an die Jäger und Jagdgehilfen verteilt. Um das leibliche Wohl der Familie und auch das seiner Gäste, die ständig das Schloss bevölkerten, musste sich Leopold keine Sorgen machen, denn das gesellschaftliche Leben fand weiterhin statt wie bisher.
Über den Eklat auf dem Kinderfest in Weischkehmen wurde nicht mehr gesprochen, aber man lud Natascha zu keinem der zahlreichen Damenkränzchen mehr ein. Ihr Fernbleiben auf Agathes Beerdigung hatte sie auch die letzten Sympathien gekostet. Sie vermisste es auch nicht. Sie ließ sich ständig russische Literatur aus St. Petersburg schicken, verschlang die Bücher mehrmals und beschäftigte sich viel mit Rüdiger. Er war ein verhätscheltes, verwöhntes Kind, sehr zart für sein Alter und immer ein wenig ängstlich. Als er mit fünf sein erstes Pony bekam, hatte er Angst, darauf zu reiten. Lieber fuhr er mit seinem Ponywagen im Schlosspark herum.
Feodora dagegen hatte in dem Alter mit ihrem Pony bereits kleine Hindernisse übersprungen und mit sechs darum gebeten, ein richtiges Pferd zu bekommen, auf dem sie ihren Vater auf seinen täglichen Ausritten begleiten konnte. Wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren, saß sie bei Elfriede in derKüche, die ihr von ihrer Tante Carla erzählte. »So wie du jetzt hat se immer hier jesessen bei meinem Muttche«, sagte Elfriede. »Und ik hab so Mitleid mit ihr jehabt. Keen Muttchen nich, dat arme Ding! Und ihr Vatje hat sich nich jekümmert. Dem war nur der Erbe wichtich.« Heimlich dachte sie, dass es ja jetzt fast genauso war, nur umgekehrt.
Wenn Elfriedes Sohn Fritz aus der Schule kam, er war etwas älter als Feodora, tobten die beiden Kinder im Gemüsegarten herum und aßen Obst von Herrn Brieskes Sträuchern und Bäumen, oder sie spielten Verstecken in dem riesigen Gewächshaus.
»Aber dat ihr mir nich ins Schloss jeht!«, hatte Elfriede streng gesagt – zu Recht fürchtete sie, wenn Natascha erfuhr, was ihre Tochter für einen unstandesgemäßen Umgang hatte, würde sie diesen sofort untersagen.
Feodora hatte zuerst widersprochen. »Aber warum denn nicht, Elfriedchen? Ich will Fritzchen die Speicher zeigen. Es ist dort so gruselig, und allein macht es keinen Spaß.«
Also musste Elfriede deutlicher werden. »Ihr wollt doch weiter zusammen spielen …?«
»Ja doch, ja«, riefen beide.
»Nu, wat meinst, wat deine Mutter, die Jräfin, dazu sacht?«
»Aber sie weiß es doch gar nicht«, sagte Feodora. »Sie ist doch gar nicht da. Und Else sagt nichts, die ist lieb.«
»Aber Olga. Glaubste nich, dat die ihr …?«
Das leuchtete Feodora ein. Olga berichtete ihrer Mutter alles, was im Schloss passierte. Sie war ihr bedingungslos ergeben.
Elfriede wusste nun, die Kinder würden sich an ihre Anordnung halten.
Als Feodora sechs Jahre alt wurde, war es mit der Freiheit vorbei. »Die Kinder sind jetzt in einem Alter, in dem sie einen Lehrer brauchen«, sagte Natascha eines Tages. »Und Feodora muss endlich anständige Manieren beigebracht bekommen. Wir sollten dafür zusätzlich eine Gouvernante einstellen, die mit den Kindern auch Französisch spricht.«
»Findest du das nicht ein wenig früh?«, warf Leopold ein.
»Schließlich soll sie sich einmal standesgemäß verheiraten«, erwiderte Natascha. »Und wie es im Moment aussieht, können wir ihr statt einer Mitgift ja wohl nur eine anständige Erziehung mitgeben.« Es war das erste Mal, dass sie eine Bemerkung über Leopolds finanzielle Situation machte.
»Nun, bis unsere Tochter ins heiratsfähige Alter kommt, fließt noch viel Wasser den Pregel hinunter.« Leopold lachte gequält. »Bis dahin kann noch viel passieren.« Damit sollte er recht behalten.
Zu Feodoras Erleichterung nahm die Suche nach geeigneten Lehrkräften einige Wochen in Anspruch. Aber schließlich wurde ein Student aus Königsberg namens Richard Seidel verpflichtet, der die Kinder in Lesen, Schreiben, Rechnen und Geografie unterrichten sollte. Die Gouvernante hieß Julia von Pulkendorf, ein ältliches Fräulein mit hervorragenden Referenzen, die von den Kindern bald heimlich Julchen genannt wurde. Sie war klein und zierlich. Ihre grauen Haare, zu einem Dutt zusammengesteckt, waren immer von einem Spitzenhäubchen bedeckt. Wenn sie lachte, sah ihr verhärmtes Gesicht fast jung aus, und man konnte ahnen, dass
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