Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
sie einmal sehr hübsch gewesen sein musste.
Von nun an war Feodoras Leben reglementiert. Vormittags hatte sie Unterricht bei Herrn Seidel, und dann aß sie gemeinsam mit dem Lehrer und der Gouvernante im kleinen Speisezimmer zu Mittag. Hier erteilte Fräulein von Pulkendorf Benimmunterricht, am Anfang auf Deutsch, später auf Französisch. »Feodora, würdest du bitte das Messer richtig halten?«, »Rüdiger, zappel nicht so herum. Bitte halte dich gerade«, »Feodora, man spricht nicht beim Essen und schon gar nicht mit vollem Mund«, »Rüdiger, würdest du bitte die Suppe nicht so schlürfen?« So ging es in einem fort. Nachmittags hatten beide Kinder Klavierunterricht bei Herrn Seidel, eine Stunde Französisch bei der Gouvernante, und wenn Rüdiger längst maulend zu seiner Mutter gelaufen war, musste sich Feodora noch mit Sticken und Malen herumplagen. Anfänglich war sie aufmüpfig, fühlte sich ihrer Freiheit beraubt und vermisste ihren Spielgefährten Fritz. Aber bald begann ihr das Lernen Spaß zu machen.
Es dauerte nur einige Tage, da hatte Julia von Pulkendorf begriffen, wie die Rollen in diesem Haus verteilt waren. Die Gräfin, schön, voller Dünkel, herrisch und nur interessiert am Wohlergehen ihres Sohnes, hatte hier das Sagen. Der Graf war ein schwacher Mann, einer Frau verfallen, die ihn nicht liebte, und versuchte, seiner Tochter die Zuwendung zu geben, die sie von ihrer Mutter nicht bekam. Er sieht gut aus, dieser Mann , dachte sie, aber er hat traurige Augen. Fräulein von Pulkendorf entging auch nicht, dass Leopold zu viel trank und sich öfter mit Freunden zum Bakkarat zurückzog. Wohin das führen konnte, wusste sie nur zu gut. Die Eskapaden ihres eigenen Vaters, seine Trunksucht und Spielschulden hatten sie zudem gemacht, was sie heute war – eine ältliche Gouvernante.
Fräulein von Pulkendorf gelang es bald, Feodoras Herz zu gewinnen. Sie lobte sie für ihre schnelle Auffassungsgabe, tröstete sie, wenn ihr etwas misslang, und streichelte ihr liebevoll über die Wange, wenn Natascha in ihrer Gegenwart Rüdiger herzte und küsste und für sie kein nettes Wort übrig hatte. Julia von Pulkendorf begann, dieses kleine, aufgeweckte Kind zu lieben, und entwickelte gegen die Mutter eine starke Abneigung. Selbstverständlich ließ sie Natascha das nicht spüren. Sie war auf das Gehalt angewiesen. Irgendwann wollte sie mit ihrem Ersparten einen ruhigen Lebensabend verbringen.
Die Abendessen fanden grundsätzlich im großen Speisesaal statt. Auch wenn Gäste eingeladen waren, nahmen Herr Seidel und die Gouvernante daran teil. Die Kinder aßen dann allein mit Else, die sie anschließend zu Bett brachte. Es war üblich, dass man sich am Abend umkleidete. Natascha erschien immer in großer Toilette, und Fräulein von Pulkendorf tauschte ihre grauen Flanellkleider gegen schwarze aus Taft oder Seide, manchmal verziert mit hohen Spitzenkrägen. Auf den locker frisierten Haaren lag ein schwarzes Spitzentuch, und in den Ohren steckten dezente Perlen. Sie war eine tadellose Erscheinung und in den folgenden Jahren für Leopold eine interessante Gesprächspartnerin, außerordentlich belesen, interessiert an Kunst, Musik und Politik. Sie verehrte Bismarck und verfolgte alle seine politischen Entscheidungen. Ab und zu ließ auch Natascha sich dazu herab, an den Gesprächen teilzunehmen, spielte nach dem Abendessen eine Partie Whist mit oder sang, von Herrn Seidel auf dem Klavier begleitet, sentimentale russische Lieder.
Leopold wollte abends immer als Erstes über die Fortschritte seiner Kinder unterrichtet werden.
»Ihre Tochter ist außergewöhnlich sprachbegabt. Sie begreift sehr schnell und lernt spielerisch«, hatte Fräulein von Pulkendorf gleich zu Anfang begeistert geschwärmt.
»Das kann ich nur bestätigen«, hatte Herr Seidel gesagt. »Das Alphabet kann sie bereits auswendig. Erstaunlich nach so kurzer Zeit.« Aber als er Nataschas versteinertes Gesicht gesehen hatte, fügte er schnell hinzu: »Auch Rüdiger ist ein sehr gelehriger Schüler. Er ist trotz seines jungen Alters fleißig bei der Sache.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber er hatte schnell begriffen, dass einseitiges Lob für die Tochter bei der Gräfin nicht gut ankam. Und auf keinen Fall wollte auch er diese Stellung, die ihm ein weiteres Jahr an der Universität ermöglichen würde, so schnell wieder verlieren.
Wie jedes Jahr war der Winter mit Macht über das Land hereingebrochen. Die mannshohen Buchsbäumchen im Park waren
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