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Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)

Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)

Titel: Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Schulze-Lackner
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bald, mein Liebling«, flüsterte sie und küsste ihn leicht auf die Stirn. Mit leiser Stimme gab sie Else letzte Anweisungen. »Ich mache dich dafür verantwortlich, wenn dem Kind etwas zustößt«, sagte sie drohend. »Also pass auf, dass es keinen Zug bekommt und brav seine Brühe trinkt.«
    »Mach ik, Frau Jräfin, ik kümmer mir schon.«
    Widerstrebend verließ Natascha die Nachtkinderstube. Einen kurzen Moment blieb sie vor Feodoras Zimmertür stehen, aber dann ging sie eiligen Schrittes weiter, was Else später voller Empörung in der Küche berichtete.
    Die Pferde scharrten bereits ungeduldig mit den Hufen, und auf dem Kutschbock saßen dick vermummt die beiden Kutscher. Nachdem Leopold dem Haushofmeister Kochta letzte Anweisungen gegeben hatte, fuhren sie unter Peitschenknallen und Kurts lautem »Hü, Hü« los.
    Sie erreichten St. Petersburg nach sieben Tagen. Nur zum Pferdewechsel hatten sie Station gemacht und sich ein paar Stunden ausgeruht.
    Als sie völlig übermüdet im Orlowski’schen Palais ankamen, empfing sie Graf Zerbelov, Fürst Orlowskis Schwager.
    »Onkel Nikolai!« Natascha fiel ihm um den Hals. »Wir sind so schnell wie möglich gekommen, kaum geschlafen haben wir. Wie geht es Väterchen, wo ist er, ich hoffe, er ist wieder wohlauf?« Sie war erschöpft auf eine Récamière gesunken. »Ich habe mir ja solche Sorgen gemacht.«
    Der alte Herr setzte sich neben sie. Betrübt sah er sie an. »Dein Vater ist tot, mein Täubchen. Er war noch ein paar Tage in tiefer Bewusstlosigkeit, und dann ist er friedlich eingeschlafen.« Für den Moment fand er diese Erklärung ausreichend.
    »Nein«, schrie Natascha. »Nein, das darf nicht sein.« Sie begann laut zu schluchzen.
    Der Graf gab dem Diener ein Zeichen, aus dem brodelnden Samowar einen Tee aufzugießen, dem er einen kräftigen Schuss Rum zugab. »Hier, mein Täubchen, trink das, es wird dir guttun.« Er strich Natascha beruhigend übers Haar. »Dein Vater hat ein wunderbares Leben gehabt«, sagte er tröstend.
    »Ja«, stimmte ihr Onkel zu. »Er hat es in vollen Zügen genossen, und so, wie er gelebt hat, ist er auch gestorben.«
    Natascha begriff nicht, was die Männer da sagten. Alles rauschte an ihr vorüber, nichts konnte sie in diesem Moment trösten. »Mein Väterchen, so lange habe ich es nicht mehr gesehen …« Im ganzen Palais war ihr Wehklagen zu hören, und erst nach Stunden fiel sie erschöpft in einen tiefen Schlaf.
     
    Der Zug der Kondolenzbesuche riss nicht ab. Natascha hatte ihre Contenance wiedergefunden. Aufrecht, ganz in Schwarz, außer ihren großen Perlen in den Ohren ohne jeden Schmuck und das Gesicht zur Hälfte mit einem Spitzenschleier bedeckt, nahm sie die Beileidsbezeugungen der St. Petersburger Gesellschaft entgegen. Wenn alte Freunde oder Bekannte kamen, schlug sie den Schleier zurück, und es gab niemanden, der nicht beeindruckt war von ihrer ungewöhnlichen Schönheit.
    Am Tag vor der Beerdigung meldete der Diener den Fürsten und die Fürstin Kropotkin.
    »Charlotta, wie schön, dich zu sehen.« Auf Nataschas Gesicht erschien das erste Mal, seit sie in ihrer Heimatstadt war, ein Lächeln. Die Frauen umarmten sich.
    »Du bist ja noch schöner geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe«, rief der Fürst. An Leopold gewandt sagte er: »Kann ich Sie gleich einmal kurz allein sprechen? Es gibt da eine Sache …«
    »Aber natürlich, Zerbelov erwähnte vorhin schon so etwas. Wollen wir in die Bibliothek gehen? Soweit ich weiß, erwartet er uns dort.«
    Bevor der Fürst sich zum Gehen wandte, sagte er: »Natascha, mein Täubchen, ich bin untröstlich. Du hast deinen Vater verloren, der dich abgöttisch geliebt hat, und ich meinen besten Freund.«
    »… und seinen besten Saufkumpan«, bemerkte Charlotta trocken, als Leopold und der Fürst außer Hörweite waren. Sie sah Natascha an. »Du hast deinen Vater verloren, das ist traurig und tut mir auch sehr leid für dich. Aber er ist gestorben, wie er gelebt hat.«
    Den Satz hatte Natascha doch schon einmal gehört! »Wie meinst du das, Charlotta?«
    »Nun, hat man es dir nicht gesagt? Er hat sich zu Tode gesoffen! Als man ihn fand, übrigens neben einer jungen, besonders hübschen Hure, war er besinnungslos betrunken. Aus diesem Rausch ist er nicht mehr aufgewacht.«
    Natascha war nicht sehr überrascht. Insgeheim hatte sie so ein Ende immer befürchtet. »Weißt du, Charlotta«, sagte sie, »so ein Tod passt zu meinem Väterchen. Könntest du ihn dir vorstellen:

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