Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
lagen eng aneinandergeschmiegt die beiden Kinder. Rüdigers Augen waren geschlossen, seine blonden Locken klebten an seinem Kopf, und sein Atem kam stoßweise. Feodora streichelte ihm zärtlich die Wangen. »Rüdi ist so heiß, Onkel Konrad«, sagte sie leise. »Er hat Hals- und Ohrenweh.«
»Ich weiß, Fedachen.« Grüben strich ihr über die Stirn. Auch sie hatte hohes Fieber.
Else zupfte ihn am Ärmel. »Dokterche«, flüsterte sie kaum hörbar. »Mir is janz mulmich. Wissen Se noch, dat Ilschen …«
»Mach die Vorhänge auf«, antwortete Grüben, ohne darauf einzugehen. »Ich muss etwas sehen, wenn ich die Kinder untersuche. Und dann hilf mir beim Ausziehen. Ich kann sonst keine genaue Diagnose stellen.«
Fräulein von Pulkendorf lehnte an der Tür. Sie war wie gelähmt. Bitte, lieber Gott , betete sie im Stillen, lass es nicht diese schreckliche Krankheit sein. Bitte, lieber Gott!
»Bei unserem Ilschen hat et jenauso anjefangen«, hatte Else ihr am Morgen angsterfüllt erzählt. »Scharlach heeßt dat. In unserem Dorf sin janz viele Kinderchens daran jestorben. Unser Ilschen och. Ik hab ihr jepflegt, bis zum Schluss hab ik ihr jepflegt.« Sie war in Tränen ausgebrochen. »Ach Jottchen, wat mach ik bloß. Ik hab der Frau Jräfin doch versprochen …«
»Nun sieh mal nicht zu schwarz, Else«, hatte die Gouvernante versucht, sie zu beruhigen. »Gleich kommt Doktor Grüben, und vielleicht ist ja alles gar nicht so schlimm.«
Das Beten hatte nichts genützt. »Es ist Scharlach«, sagte Doktor Grüben, nachdem er beide Kinder gründlich untersucht hatte. »Es gibt schon mehrere Fälle im Landkreis.« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Das wird wieder viel Leid über die Menschen bringen.«
»Deck sie gut zu«, wies er Else an. »Dann mach für eine halbe Stunde die Fenster weit auf. Es muss frische Luft herein.« Zu der Gouvernante sagte er: »Ich muss mit Ihnen sprechen, allein.«
Im kleinen Salon, Alfons hatte dort bereits Tee serviert und einen Imbiss vorbereitet, erfuhr sie das ganze Ausmaßder Katastrophe. »Beide Kinder haben Scharlach«, eröffnete Grüben der entsetzten Frau. »Die Diagnose ist eindeutig. Hohes Fieber, geschwollene Lymphen, kleine rote Pusteln …«
»Aber ich habe gar keine gesehen …«
»… am ganzen Körper. Im Gesicht findet man sie kaum«, fuhr er fort. »Symptomatisch sind auch die Hals- und Schluckbeschwerden, Bauchschmerzen …« Er nahm einen Schluck Tee. »Feodora hat sich wahrscheinlich bei Rüdiger angesteckt.«
»Und was sollen wir jetzt tun?«
»Sie muss sofort von ihm getrennt werden. Außer Else darf niemand zu ihnen. Niemand, haben Sie mich verstanden. Auch Sie nicht!« Er sah ihr an, dass ihr das gar nicht recht war. »Else ist immun, sie hatte seinerzeit auch die Symptome der Krankheit. Ansonsten gibt es nichts, was wir tun können. Eine Medizin gibt es nicht. Das Einzige, was wir über Scharlach wissen, ist, dass die Krankheit extrem ansteckend und leider sehr oft tödlich ist.«
»Aber wir müssen die Eltern benachrichtigen. Ich kann doch nicht die ganze Verantwortung allein tragen!« Aufgeregt rannte Fräulein von Pulkendorf hin und her und wischte sich dabei mit ihrem Spitzentaschentuch die Tränen weg.
»Meine Freunde sind vermutlich irgendwo auf der Landstraße zwischen Riga und St. Petersburg, wie wollen Sie sie erreichen? Wir können im Moment wirklich nichts tun, außer hoffen und beten, dass die Kinder wieder wohlauf sind, wenn sie zurückkommen«, sagte Grüben.
»Ja, glauben Sie denn, dass es Hoffnung gibt?«
Obwohl der Doktor keineswegs davon überzeugt war, sagte er: »Sie wissen doch, die Hoffnung stirbt zuletzt. SorgenSie dafür, dass Else meine Anweisungen befolgt. Wir werden jetzt zu ihr gehen, und ich werde ihr sagen, was zu tun ist.«
»Wie lange kann es dauern, bis die Kinder über den Berg sind?« An etwas anderes wollte Fräulein von Pulkendorf einfach nicht denken.
»Die Krankheit dauert gewöhnlich zwölf bis vierzehn Tage. Bis dahin werden die Troyenfelds hoffentlich zurück sein.«
Nachdem Grüben Else gesagt hatte, was zu tun sei, verließ er niedergeschlagen das Schloss. »Ich werde zweimal täglich vorbeischauen«, versprach er der verzweifelten Gouvernante beim Abschied. »Und machen Sie sich nicht so große Sorgen.« Die Zuversicht, die er gerade noch ausgestrahlt hatte, empfand er selbst in keinster Weise. Im Gegenteil, er befürchtete das Schlimmste.
Fräulein von Pulkendorf empfing Leopold und Natascha in der
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