Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
alt, gebrechlich und ohne seine Musik und seinen Wodka? Ich bin sehr traurig, aber ich glaube, so, wie es gekommen ist, hätte er es sich bestimmt gewünscht.«
Während die beiden Frauen bei Tee und Gebäck plauderten, hatte Leopold ein ernstes Gespräch mit Graf Zerbelov und Fürst Kropotkin. »Wie Sie sicher wissen, lieber Troyenfeld,ist Natascha Alleinerbin meines Schwagers«, begann Zerbelov.
Leopold nickte.
»Nun, seit bekannt wurde, dass Fürst Orlowski so plötzlich verstorben ist, stehen seine Gläubiger Schlange.«
»Das ist ja äußerst bedauerlich …« Leopold wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Über Nataschas Erbe hatte er noch keinen Augenblick nachgedacht.
»Zu meinem größten Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass so gut wie kein Bargeld vorhanden ist. Wir haben alle Konten überprüft, er hatte nichts als Schulden bei den Banken. Was schlagen Sie vor, sollen wir veranlassen? Das Palais veräußern? Nur Sie als Nataschas Ehemann sind dazu befugt, uns die Vollmachten zu erteilen.«
»Ja, tun Sie das, und tilgen Sie damit die Verbindlichkeiten meines Schwiegervaters.«
Zerbelov legte Leopold ein bereits vorbereitetes Schriftstück zur Unterschrift vor. »Wir haben nichts anderes erwartet«, sagte er. »Gleich nach der Beisetzung werden wir die nötigen Schritte einleiten.«
»Wollen Sie es Natascha sagen, oder soll ich es tun?«, fragte Fürst Kropotkin.
»Nein, im Moment ist ihr Schmerz zu groß. Ich werde sie später darüber in Kenntnis setzen.«
Die Beerdigung am nächsten Tag erlebte Natascha wie in Trance. Die endlosen orthodoxen Liturgien, dazu die schwermütigen Gesänge und die vielen weinenden Menschen – alles schien ihr plötzlich unerträglich. Mit dem Tod ihres Vaters war das letzte Band zu ihrer Heimat zerschnitten. Plötzlich sehnte sie sich nach Troyenfeld, Rüdiger und sogar nach Feodora.
Gleich nach der Trauerzeremonie drängte sie zum Aufbruch. »Ich will nach Hause, Leopold. Ich habe Sehnsucht nach Troyenfeld und meinen Kindern.«
Leopold war überglücklich. Würde sich ihr Leben doch noch zum Guten wenden? Aber als sie in Troyenfeld ankamen, war das Glück für immer vorbei. Alles sollte noch viel schlimmer werden.
Zwei Tage nach Leopolds und Nataschas überstürzter Abreise nach St. Petersburg herrschte große Erleichterung auf Troyenfeld. Als Doktor Grüben zu seiner täglichen Visite kam, begrüßte ihn Fräulein von Pulkendorf freudestrahlend. »Rüdiger geht es ja so viel besser«, rief sie. »Er hat kaum noch erhöhte Temperatur, und seine Suppe hat er ohne Murren gegessen.«
»Da bin ich aber froh«, sagte der Arzt erfreut. »Ich sehe nur mal kurz nach ihm.«
Als er sich wenig später verabschiedete, gab er der Gouvernante noch einige Anweisungen. »Rüdiger soll noch einen Tag das Bett hüten. Dann darf er aufstehen. Aber lassen Sie ihn die nächsten Tage noch nicht nach draußen. Dieses Wetter ist gefährlich und Rüdiger, wie Sie wissen, äußerst anfällig.«
»Ich passe schon auf«, sagte Julia von Pulkendorf lächelnd. »Wir wollen uns doch nicht den Zorn der Gräfin zuziehen.«
»Gott bewahre!« Der Arzt lachte. »Vorsichtshalber schaue ich übermorgen noch einmal vorbei.«
Als er zwei Tage später auf Troyenfeld eintraf, empfing ihn Fräulein von Pulkendorf mit besorgtem Gesicht. »Seit gestern klagt der Junge über Ohrenschmerzen, und das Fieberist wieder gestiegen. Er will auch nichts essen, er sagt, dass er nicht schlucken kann.«
»O mein Gott!« Grüben sah sie entsetzt an. »Hat er rote Flecken?«
»Im Gesicht habe ich nichts entdecken können.«
Während sie zu der Kinderstube eilten, fragte Grüben: »Wo ist Feodora, hat sie auch irgendwelche Beschwerden?«
»Sie hat die ganze Nacht bei Rüdiger verbracht, zusammen mit Else. Auch sie wollte heute Morgen nichts zu sich nehmen. Sie klagt über Bauchweh.«
»Hat sie Fieber?«
»Wir haben bei ihr noch nicht gemessen.« Die Gouvernante machte ein schuldbewusstes Gesicht. »War das fahrlässig von mir, hätte ich das tun sollen?«
Außer Atem waren sie vor Rüdigers Nachtkinderstube angekommen. »Beten Sie, dass das, was ich befürchte, sich nicht bewahrheitet«, sagte der Arzt ernst. »Gleich werde ich mehr wissen.«
In dem Zimmer herrschte eine stickige Luft. Die Vorhänge waren zugezogen, und eine flackernde Kerze auf dem Nachttisch verbreitete ein spärliches Licht. Es dauerte einen Moment, bis Doktor Grüben sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. In dem schmalen Bett
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