Solange am Himmel Sterne stehen
Enttäuschung für sie. Ich glaube, sie wünschte, sie hätte mich nie bekommen.«
Ich habe diese Worte noch nie laut ausgesprochen, daher bin ich mir nicht sicher, warum ich es jetzt tue, ausgerechnet vor Thom Evans.
»Das stimmt nicht, Hope«, sagt Thom leise. »Mit Ihrer Mom hatte man es nicht immer leicht. Das wissen Sie selbst. Aber Sie waren der Mittelpunkt ihres Lebens, ob Sie es wussten oder nicht.«
»Nein, das war ich nicht«, sage ich. »Das waren Sie. Sie und die anderen Männer, die in ihrem Leben kamen und gingen. Nehmen Sie’s mir nicht übel.«
»Das tue ich nicht«, sagt Thom.
»Es war, als suchte sie immer nach irgendetwas, was sie nicht finden konnte«, sage ich.
»Am Ende ihres Lebens hat sie es gefunden, glaube ich«, sagt er. »Aber vielleicht war es zu spät für sie, um es Ihnen richtig zu verstehen zu geben.«
Ich sehe auf. »Was meinen Sie damit?«
Er seufzt. »Sie hat ständig davon geredet, dass sie zu kalt sei, um sich richtig um irgendjemanden zu kümmern.«
»Das hat sie Ihnen gesagt?« So viel Selbsterkenntnis hatte ich meiner Mutter gar nicht zugetraut. Um genau zu sein, hatte ich gar nicht gewusst, dass sie am Ende überhaupt noch mit Thom sprach. Ich dachte, wenn die Leute aus ihrem Leben verschwanden, dann für immer. Es wundert mich zu hören, dass sie ihn wieder in ihr Leben gelassen hat.
Er nickt. »Wir haben uns über vieles unterhalten. Vor allem zum Ende hin. Ich glaube, als die Krankheit Ihrer Mutter voranschritt, bedauerte sie vieles. Erst kurz vor ihrem Tod erkannte sie, dass das, was sie gesucht hatte, die ganze Zeit genau vor ihrer Nase gewesen war.«
Ich blinzele. »Was meinen Sie damit?«
»Sie hat Sie geliebt«, sagt er. »Mehr, als sie als junge Frau wirklich begreifen konnte. Ich glaube, sie hat ihr Leben lang nach Liebe gesucht, hat an ihrer eigenen Fähigkeit zu lieben gezweifelt, und letztendlich hat sie erkannt, dass sie die ganze Zeit da gewesen war. In Ihnen. Und wenn sie das früher begriffen hätte, dann hätte vielleicht alles anders kommen können.«
Ich starre ihn nur an, denn ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Gehen Sie und lesen Sie den Brief Ihrer Großmutter, Hope«, sagt Thom sanft. »Und wenn Sie etwas von Ihrer Mom lernen wollen, dann, dass Sie nicht so weit weg, wie Sie vermuten, nach dem suchen müssen, was schon da ist.«
An jenem Abend rufe ich Annie an, um ihr von Jacobs Erbschaft zu erzählen, die ausreichen wird, um die Bäckerei zu retten und für Annies Collegegebühren aufzukommen – wobei immer noch ein dicker Batzen übrig bleiben wird. Während ich höre, wie sie am anderen Ende der Leitung jauchzt und jubelt, muss ich lächeln, und ich schwöre mir, mir künftig mehr Mühe mit ihr zu geben. Es wird besser werden. Sie ist ein gutes Kind, und ich weiß, dass ich mich weiterhin bemühen muss, eine bessere Mom zu sein. Vielleicht kann ich das doch besser, als ich glaube.
Ich wünsche Annie viel Spaß bei ihrer Silvesterfeier, und sie verspricht mir, mich nach Mitternacht anzurufen, wenn Rob sie und ihre Freundinnen zu ihm nach Hause fährt, wo die Mädchen alle zusammen übernachten werden.
Es ist kurz nach elf, als ich mich endlich mit Mamies Brief vor den Kamin setze. Meine Hände zittern, als ich ihn öffne; mir ist bewusst, dass er das letzte Stück von ihr ist. Nach allem, was ich weiß, könnte es Alzheimer-Gefasel sein; es könnte aber auch etwas sein, das ich für immer wie einen Schatz hüten werde. Wie auch immer, sie ist nicht mehr. Jacob ist nicht mehr. Meine Mutter ist nicht mehr. Annie wird in spätestens sechs Jahren erwachsen und aus dem Haus sein. Ich wickele mich in eine Wolldecke, die meine Großmutter gestrickt hat, als ich ein kleines Mädchen war, und versuche, mich nicht ganz so allein zu fühlen.
Ich ziehe den Brief aus dem Umschlag. Er ist vom 29. September datiert. Dem Tag, an dem wir mit Mamie zum Strand gefahren sind. Dem Tag, an dem sie mir die Liste mit den Namen gegeben hat. Dem ersten Abend von Rosch ha-Schana. Dem Abend, an dem alles begann. Mein Herz setzt einen Takt aus, und ich hole einmal tief Luft.
Liebste Hope , beginnt der Brief. Die nächsten zehn Minuten bin ich in die Lektüre vertieft. Ich überfliege den Brief einmal kurz, und dann, mit Tränen in den Augen, gehe ich zurück zum Anfang, um ihn noch einmal, diesmal langsamer, zu lesen. Ich höre Mamies Stimme in meinem Kopf, während sie jedes der Worte mit ihrem bedächtigen, melodischen Akzent formt.
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Liebste
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