Solange am Himmel Sterne stehen
Fantasie ein weißes Pferd – und für immer davonreiten würde zu jenem Märchenreich mit der Königin, die alle beschützte.
Aber jetzt bin ich sechsunddreißig, und ich weiß es besser. Es gibt keine schneidigen, heldenhaften Prinzen, die nur darauf warten, mich zu erretten. Es gibt keine Märchenkönigin, die mich beschützt. Letztendlich kann man sich nur auf sich selbst verlassen. Ich frage mich, wie alt Mamie war, als sie diese Wahrheiten gelernt hat. Und plötzlich fühle ich mich einsamer als je zuvor, obwohl ich das Gefühl habe, von der Vergangenheit meiner Großmutter geborgen zu sein.
Die Rue Visconti ist düster und eng, eher eine lange Gasse als eine richtige Straße. Die Gehsteige sind zwei schmale Streifen zu beiden Seiten, und ein einsames Fahrrad, das an einem schwarzen Türeingang lehnt, erinnert mich an eine altmodische Postkarte. Ich gehe an ein paar Läden vorbei fast bis zum anderen Ende, wo ich schließlich die Nummer 24 sehe, eine riesige schwarze Doppeltür unter einem Türbogen. Auf dem Tastenfeld rechts daneben gebe ich den Code ein, den Carole mir aufgeschrieben hat – 48A51 –, und als der Summer ertönt, drücke ich die Tür nach innen auf. Als ich aus der dunklen Kühle des gewölbten Innenhofs in den ersten Stock des Gebäudes hochsteige, steht die Tür bereits offen. Ich klopfe trotzdem leicht an den Türrahmen, und aus den Tiefen der Wohnung ruft eine dunkle, heisere Stimme: » Entrez-vous! Entrez-vous, madame! «
Ich trete ein, schließe hinter mir sanft die Tür und gehe langsam durch einen schmalen Flur, der von Regalen voller alter, ledergebundener Bücher gesäumt ist. Dann komme ich in ein sonniges Zimmer, wo ich einen weißhaarigen, gebeugten Mann am Fenster stehen sehe. Er starrt auf die Straße unten hinaus. Er dreht sich um, als ich eintrete, und ich bin verblüfft, wie zerfurcht sein Gesicht ist. Er sieht aus, als hätte er hunderte Jahre der Geschichte durchlebt, nicht nur die dreiundneunzig, von denen Carole Didot gesprochen hatte. Ich gehe auf ihn zu, um ihm die Hand zu geben, und er sieht mich seltsam an.
»Ah, eine Amerikanerin«, sind seine ersten Worte an mich. Dann lächelt er, und ich bin verblüfft, wie strahlend seine grünen Augen aussehen; es sind die Augen eines jungen Mannes, die in seinen eingefallenen Gesichtszügen fast unpassend erscheinen. »Madame Didot hat mir nicht gesagt, dass Sie Amerikanerin sind. In Paris begrüßen wir uns mit deux bisous , zwei Küssen auf die Wangen, meine Liebe.« Er macht es mir vor, beugt sich vor, um mich leicht auf beide Wangen zu küssen. Ich spüre, wie ich erröte.
»Entschuldigung«, murmele ich.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, sagt er. »Ihre amerikanischen Sitten sind durchaus charmant.« Er zeigt auf einen kleinen Tisch mit zwei Holzstühlen am Fenster. »Kommen Sie, setzen Sie sich.« Er wartet, bis ich Platz genommen habe, bietet mir eine Tasse Tee an, und als ich ablehne, setzt er sich zu mir. »Ich bin Olivier Berr.«
»Ich bin Hope McKenna-Smith. Danke, dass Sie mich so kurzfristig empfangen«, sage ich langsam. Ich versuche Rücksicht auf sein Alter zu nehmen und auf die Tatsache, dass Englisch nicht seine Muttersprache ist.
»Das ist gar kein Problem«, sagt er. »Es ist mir immer ein Vergnügen, Besuch von einem hübschen Mädchen zu bekommen.« Er lächelt und tätschelt meine Hand. »Man hat mir gesagt, Sie suchen nach Informationen.«
Ich nicke und hole einmal tief Luft. »Ja, Sir. Meine Großmutter stammt aus Paris. Ich habe erst kürzlich erfahren, dass ihre Familie möglicherweise im Holocaust ums Leben gekommen ist. Ich glaube, sie waren jüdisch.«
Er sieht mich einen Moment an. »Und das haben Sie erst kürzlich erfahren?«
Verlegen versuche ich es zu erklären. »Na ja, sie hat nie darüber gesprochen.«
»Sie wurden in einer anderen Religion erzogen.« Es ist eine Feststellung, keine Frage.
Ich nicke. »Katholisch.«
Er wiegt bedächtig den Kopf. »Das ist durchaus nicht ungewöhnlich. Die Vergangenheit auf diese Weise hinter sich zu lassen. Mais , im Grunde ihres Herzens, nehme ich an, sieht sich Ihre Großmutter vielleicht immer noch als juive .«
Ich berichte ihm kurz, was an Rosch ha-Schana passiert ist, mit den Krusten des Sterntörtchens.
Er lächelt. » Judaïsme ist nicht nur eine Religion, sondern ein Zustand des Herzens und der Seele. Ich nehme an, alle Religionen sind vielleicht so, für die, die wirklich an sie glauben.« Er hält einen Moment inne.
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