Solange am Himmel Sterne stehen
wenn man von ganzem Herzen an sie glaubt.
Ich sehe nach rechts, während ich die Brücke überquere, und ich muss lächeln, als ich die Spitze des Eiffelturms auf der anderen Seite des Flusses in der Ferne über den Häuserdächern aufragen sehe. Ich habe ihn tausendmal auf Fotos gesehen, aber ihn jetzt zum ersten Mal mit eigenen Augen zu sehen ruft mir in Erinnerung, dass ich wirklich, wahrhaftig hier bin, tausende von Meilen entfernt von meinem Zuhause, über einen Ozean hinweg. In diesem Augenblick vermisse ich Annie schrecklich.
Erst als ich die hölzerne Brücke halb überquert habe, überkommt mich auf einmal ein seltsames Déjà-vu-Gefühl, als wäre ich schon einmal hier gewesen. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, warum, und als es mir klar wird, bleibe ich so unvermittelt stehen, dass die Frau hinter mir mich glatt anrempelt. Sie murmelt irgendetwas auf Französisch, wirft mir einen vernichtenden Blick zu und schlägt dann einen übertrieben großen Bogen um mich. Ich achte gar nicht auf sie, während ich mich langsam, mit weit aufgerissenen Augen, im Kreis drehe. Zu meiner Rechten, jenseits der glitzernden Seine, ragt die Spitze des Eiffelturms in das Blau des Himmels empor. Hinter mir erhebt sich der Louvre prächtig und eindrucksvoll am Ufer des Flusses. Zu meiner Linken kann ich eine Insel sehen, die über zwei Brücken mit der Stadt verbunden ist. Ich zähle rasch die Brückenbögen. Sieben an der linken Brücke; fünf an der rechten. Und das Gebäude vor mir, das Institut de France, wie Carole mir erklärt hat, sieht fast aus wie ein zweiter Palast, als seien dieses Bauwerk und der Louvre einmal zwei Hälften ein und desselben Königreichs gewesen.
Mein Herz hämmert in meiner Brust, und ich höre Mamies Stimme in meinen Ohren, die mir das Märchen erzählt, das ich so oft von ihr gehört habe, dass ich es auswendig kannte, als ich in Annies Alter war.
» Jeden Tag ging der Prinz über die hölzerne Brücke der Liebe, um seine Prinzessin zu sehen. Der große Palast lag hinter ihm, und vor ihm, am Eingang zum Königreich der Prinzessin, lag das Schloss mit der Kuppel. Er musste einen breiten Wassergraben überqueren, um zu seiner einzig wahren Liebe zu gelangen, und zu seiner Linken führten zwei Brücken ins Herz der Stadt – eine mit sieben Bögen und eine mit fünf. Zu seiner Rechten durchschnitt ein gewaltiges Schwert den Himmel und warnte ihn vor der Gefahr, die vor ihm lag. Dennoch kam er jeden Tag wieder und trotzte dieser Gefahr, da er die Prinzessin liebte. Er sagte, alle Gefahren dieser Welt könnten ihn nicht von ihr fernhalten. Jeden Tag saß die Prinzessin an ihrem Fenster und horchte auf seine Schritte, denn sie wusste, dass er sie niemals enttäuschen würde. Er liebte sie, und wenn er versprach, er würde kommen und sie holen, dann hielt er auf jeden Fall sein Wort. «
Ich hatte immer gedacht, Mamies Geschichten seien einfach nur Märchen, die sie selbst als kleines Mädchen gehört hatte. Aber jetzt frage ich mich zum ersten Mal, ob sie sie sich vielleicht selbst ausgedacht und in ihrem geliebten Paris angesiedelt hat. Kopfschüttelnd gehe ich weiter, aber mit weichen Knien. Ich stelle mir vor, wie meine Großmutter als junges Mädchen genau dieselbe Brücke überquert, dieselben Gebäude und denselben Fluss unter sich gesehen und sich vorgestellt hat, dass eines Tages ein Prinz kommt und sie mitnimmt. Waren ihre Schritte dort gefallen, wo jetzt meine fallen, an genau dieser Stelle, vor rund siebzig Jahren? Hatte sie auf dieser Brücke gestanden und darauf gewartet, dass die Sterne im Osten aufgingen, über der Insel mitten auf der Seine, so wie sie jetzt jeden Abend an ihrem Fenster darauf wartet, dass sie aufgehen? Hatte sie es bereut, das alles für immer verlassen zu haben?
Während ich weitergehe, denke ich an mein Lieblingsmärchen von ihr, in dem der Prinz der Prinzessin sagt, dass er sie lieben wird, solange am Himmel Sterne stehen.
»› Eines Tages‹, sagte der Prinz zu der Prinzessin, ›werde ich dich über ein großes Meer zu einer Königin führen, deren Fackel die ganze Welt erhellt, sodass all ihre Untertanen sicher und frei sind.‹ «
Als kleines Mädchen klammerte ich mich an diese Worte und stellte mir vor, dass auch ich eines Tages einen Prinzen finden würde, der mich vor der Kälte meiner Mutter erretten würde. Ich stellte mir vor, dass ich zu dem Prinzen auf sein weißes Pferd steigen würde – denn natürlich hatte der Prinz in meiner
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