Solange am Himmel Sterne stehen
manchmal im Leben ist es eben leichter zu glauben, dass alles wieder gut werden wird. Wir haben vor der Wahrheit die Augen verschlossen.«
»Aber wie hätten Sie das denn wissen können?«, frage ich.
Er nickt. »Im Nachhinein ist es immer leicht zu zweifeln, aber Sie haben recht; wir hätten unmöglich wissen können, was auf uns zukam. Wir – meine Frau und mein Sohn, der erst drei Jahre alt war – wurden mit vielen anderen ins Vélodrome d’Hiver im quinzième gebracht, in der Nähe des Eiffelturms, gleich bei der Seine. Dort waren vielleicht sieben- oder achttausend Menschen. Man konnte sie unmöglich alle zählen. Es war ein Meer von Menschen. Es gab kein Essen. Kaum Wasser. Wir waren zusammengepfercht wie die Sardinen. Manche Leute haben sich umgebracht. Ich habe eine Mutter gesehen, die ihr Baby erstickt hat, und ich dachte, sie sei verrückt, aber am Ende des dritten Tages begriff ich, dass sie gnädig gewesen war. Später, als sie laut wimmerte, sah ich, wie ein Wachmann sie erschoss. Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich dachte: die Glückliche. «
Seine Stimme ist tonlos, aber seine Augen sind feucht, als er fortfährt: »Dort blieben wir fünf Tage, bevor sie uns wegbrachten. Am vierten Tag starb mein Sohn, mein Nicolas, in meinen Armen. Und bevor wir nach Drancy und dann nach Auschwitz gebracht wurden, wurden meine Frau und ich voneinander getrennt, aber ich konnte in ihren Augen sehen, dass sie schon längst nicht mehr lebte. Nicolas zu verlieren hatte ihr den Lebenswillen genommen. Später hörte ich, sie habe schon die erste Selektion bei ihrer Ankunft in Auschwitz nicht überstanden, und sie habe kein einziges Mal geweint, als sie weggeführt wurde.«
»Es tut mir so leid«, murmele ich nur, aber wieder tut er meine Worte mit einer Handbewegung ab.
»Das ist lange her«, sagt er. Ich sehe zu, wie er sich wieder seinem Buch zuwendet und die Seite studiert, die, wie er mir sagte, die Informationen enthält, die ich gesucht habe.
» Alors «, sagt er. Er blinzelt ein paarmal. »Ihre Familie. Die Picards aus der Rue du Général Camou. Die beiden jüngsten, David und Danielle, sind in Auschwitz umgekommen. Gleich bei der Ankunft. David war acht Jahre alt und Danielle fünf.«
»Gott«, hauche ich. »Sie waren noch so klein.«
Monsieur Berr nickt. »Die meisten kleinen Kinder sind nie zurückgekehrt. Sie wurden sofort in die Gaskammer geschickt, da sie in den Augen der Deutschen nutzlos waren.« Er schluckt und liest weiter. »Hélène, achtzehn Jahre alt, und Claude, sechzehn, starben 1942 in Auschwitz, ebenso ihre Mutter, Cécile. Der Vater, Albert, starb Ende 1943 in Auschwitz.« Er hält einen Moment inne und ergänzt leise: »Hier steht, dass er im Krematorium gearbeitet hat, bis er im Winter krank wurde. Das muss schrecklich gewesen sein. Er kannte sein eigenes Schicksal.«
Ich spüre Tränen in meinen Augen, und diesmal ist es zu spät, um sie wegzublinzeln. Monsieur Berr schweigt, während sie mir in Strömen über die Wangen fließen. Es dauert ein paar Momente, bis seine Worte ganz zu meiner Seele durchdringen. »Sie sind alle dort umgekommen?«, flüstere ich. »In Auschwitz?« Er erwidert meinen Blick und nickt langsam, das Gesicht voller Mitgefühl. »Was ist mit Alain? Wie ist er gestorben?«
Zum ersten Mal an diesem Tag blickt Monsieur Berr verdutzt. »Gestorben? Aber er war es doch, der mir diese Informationen gegeben hat.«
Ich starre ihn an. »Ich verstehe nicht.«
Er sieht noch einmal blinzelnd auf die Seite. »Ja, dieses Interview ist auf den sechsten Juni 2005 datiert. Ich kann mich an ihn erinnern. Ein sehr netter Herr. Freundliche Augen. An den Augen kann man einen Menschen immer erkennen. Er hat mit einem anderen Überlebenden Schach gespielt, einem Mann, den ich kannte. So bin ich auf ihn gestoßen.«
»Augenblick.« Mein Herz hämmert, während ich zu begreifen versuche, was er sagt. »Wollen Sie damit sagen, dass Alain Picard, der Bruder meiner Großmutter, noch lebt? Und dass Sie mit ihm gesprochen haben?«
Monsieur Berr blickt besorgt. » Bien sûr , im Jahr 2005 war er auf jeden Fall noch am Leben. Ich weiß nicht, was danach aus ihm geworden ist. Er wurde nie deportiert, aber er hat im Krieg gelitten. So wie alle. Er hat mir erzählt, er sei in den Untergrund gegangen und hätte fast drei Jahre kaum etwas zu essen bekommen. Ein Mann, sein alter Klavierlehrer, bot ihm in den kältesten Winternächten einen Schlafplatz an, aber der Mann hatte Angst,
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