Solange am Himmel Sterne stehen
wird ein unheimliches Bild von Bahngleisen, die ins Nichts führen, auf eine große, kahle Wand projiziert, und ich muss wieder an den Traum denken, den ich hatte, kurz nachdem Mamie mir ihre Liste gegeben hatte.
Eine halbe Stunde lang bin ich in meine eigenen Gedanken verloren, während ich eine Zeugenaussage nach der anderen über den Ausbruch des Krieges, die Aberkennung jüdischer Rechte in Frankreich und ganz Europa und die ersten Deportationen aus dem Land lese.
Diese Dinge sind nicht nur zu Lebzeiten meiner Großmutter passiert, sie sind vermutlich sogar genau den Menschen passiert, die sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt hat. Ich schließe die Augen, und mir wird bewusst, dass ich schwer atme. Mein Herz hämmert noch immer doppelt so schnell in meiner Brust, als ich vor mir die Stimme einer Frau höre.
»Madame McKenna-Smith?«
Ich schlage die Augen auf. Die Frau, die vor mir steht, ist etwa in meinem Alter, mit braunen Haaren, die zu einem Knoten gebunden sind, und blauen Augen, die von Lachfältchen umrandet sind. Sie trägt dunkle Jeans und eine weiße Bluse.
»Ja, das bin ich«, sage ich und füge dann rasch hinzu: »Entschuldigung, ich meine, oui, madame .«
Sie lächelt. »Schon gut. Ich spreche etwas Englisch. Ich bin Carole Didot. Möchten Sie vielleicht mitkommen?«
Ich nicke und folge ihr durch die restliche Ausstellung, während wir mit raschen Schritten an einer anderen Reihe mit Videos und noch mehr Wänden mit Dokumenten und Informationen vorbeigehen. Sie führt mich weiter durch einen Saal voller Fotos von Kindern; sie erstrecken sich, so weit das Auge reicht. Ich bleibe stehen und beuge mich vor, um eine der Bildunterschriften auf Augenhöhe zu lesen.
Rachel Fournier, 1937–1942 , steht da. Auf dem Foto grinst ein dunkelhaariges kleines Mädchen in die Kamera, das Haar mit Schleifen zu Zöpfen gebunden. Sie hält einen großen Gummiball umklammert und lächelt direkt in die Kamera.
»Das hier sind die französischen Kinder, die ums Leben gekommen sind«, sagt Carole leise.
»Mein Gott«, murmele ich. Dieser Saal berührt mich noch tiefer als die erschütternden Bilder des Todes, die ich in dem anderen Raum gesehen hatte. Ich starre benommen auf die Bilder, während ich unwillkürlich an meine eigene Tochter denken muss. Hätte uns das Schicksal in ein anderes Land, in eine andere Zeit verschlagen, dann hätte sie leicht eines dieser kleinen Mädchen an der Wand sein können.
»Fast elftausend Kinder aus Frankreich sind in der Schoah ums Leben gekommen.« Carole liest in meinem Gesicht. »Dieser Saal erinnert mich immer an all das, was hätte sein können und niemals war.«
Ihre Worte klingen mir in den Ohren, während ich ihr zu einem Aufzug folge, in dem sie auf den Knopf für den dritten Stock drückt. Wir fahren schweigend nach oben, wobei ich über Mamies Familie und alles, was verloren gegangen ist, nachdenke.
Carole führt mich in ein modernes Büro mit zwei Stühlen vor einem Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Papiere türmen. Durchs Fenster kann ich einen Kirchturm über einer Reihe von Wohnungen sehen, und an der Wand hängen Kinderzeichnungen, auf denen Mama steht. Carole deutet auf einen der Stühle und nimmt hinter ihrem Computer Platz.
»Was hat Sie veranlasst, diesen weiten Weg nach Paris auf sich zu nehmen?«, fragt sie, während sie ihre Maus hin- und herbewegt und auf ein paar Tasten drückt.
Ich erzähle ihr kurz Mamies Geschichte und dass ich glaube, dass die Namen, die sie mir gegeben hat, Familienangehörige sind, die im Holocaust umgekommen sind. Ich erkläre ihr, dass ich alle bis auf Alain gefunden habe, über den es keine Unterlagen zu geben scheint. Außerdem sage ich ihr, dass ich nicht herausfinden kann, was mit meiner Großmutter passiert ist; auch über eine Rose Picard steht nichts in den Deportationsunterlagen.
»Aber sagten Sie nicht, Ihre Großmutter sei vor ihrer Verhaftung aus Paris geflohen?«, fragt Carole.
Ich nicke. »Ja. Ich meine, ich glaube es. Sie hat es uns nie erzählt. Und jetzt hat sie Alzheimer.«
Carole schüttelt den Kopf. »Das heißt, die Vergangenheit ist für sie fast verloren.«
Ich nicke. »Ich will einfach wissen, was damals geschehen ist. Sie hat mich gebeten herauszufinden, was mit ihrer Familie passiert ist. Und ich befürchte, wenn ich ohne eine Antwort darauf, was aus Alain geworden ist, nach Hause fahre, wird es ihr das Herz brechen.«
»Es tut mir leid, dass wir Ihnen nicht weiterhelfen
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