Solange die Nachtigall singt
unsicher.
»Du kannst es nie mit Sicherheit wissen«, antwortete sie, und in ihren Augen standen Tränen. »Du kannst nie wirklich wissen, ob ich nicht so bin wie Joana und Jolanda. So kalt. So berechnend. So unglücklich. Aber in jedem Fall möchte ich nie mehr von jemandem geküsst werden, der mich nicht liebt.«
»Du hoffst jetzt, dass ich sage, ich liebe dich.«
Sie wischte ihre Tränen fort. »Das wäre etwas viel verlangt. Manche Gefühle müssen einseitig bleiben. Du geh hinaus und such dir da draußen ein Mädchen, das ein besseres Herz hat. Ein echtes, nicht nur eines aus Äpfeln …« Weiter kam sie nicht, weil er sie an sich zog und sie doch küsste.
Es wäre gelogen gewesen, zu sagen, er liebte sie. Er hatte sich längst von dem Gedanken verabschiedet, dass sein Verhältnis zu den Mädchen irgendetwas mit Liebe zu tun hatte. Aber in diesem Moment war er näher daran, zu lieben, als je zuvor.
Winterapfel
Das Erste, was Jari sah, als er am nächsten Morgen aufwachte, war ein kleiner roter Apfel auf dem Schreibtisch. Er erinnerte sich an die Nacht, streckte sich und blieb noch einen Moment liegen.
»Warum bist du froh?«, flüsterte er. »Es gibt keinen Grund, froh zu sein. Jari Cizek ist noch immer ein Mörder. Es gibt noch immer keinen Weg zurück.« Aber in seiner Nase hatte sich der Geruch der schwarzen Regenjacke festgesetzt. Womöglich auch Jaschas Geruch, ein Duft, den nur sie in den Haaren trug. Und er fühlte sich leicht.
»Vielleicht lohnt es sich«, wisperte er. »Gerade weil alles eigentlich aussichtslos ist.«
Ja, wenn er sterben würde, so wie die anderen Jäger, dann wäre es doch klug, vorher noch einmal zu lieben. Mit dem Herzen und nichts sonst. Von der anderen Sorte Liebe hatte er genug gehabt in letzter Zeit.
Er fuhr mit dem Finger über die geschwärzten Flecken in den Spiegeln, als er den Flur entlangging. Er wünschte, das Feuer hätte mehr von den Spiegeln geschwärzt, am besten alle – die falsche Welt dahinter verschlungen. Er hatte es satt, sich in wilden Auswüchsen der Realität zu verirren.
Die Küche war leer. Jari hatte lange geschlafen. Er schnitt eine Scheibe Brot ab und trat hinaus in die kalte Luft. Bei den Apfelbäumen stand eine der Schwestern auf einer Leiter und hängte Meisenknödel in die Äste. Er beobachtete sie eine Weile: die weich fallenden Falten ihres kobaltblauen Mantels, ihre Beine in den dünnen, silbergrauen Strumpfhosen voller Schneeflockenmuster. Ihre Hände in den weißen Handschuhen. Die Stiefel auf den Leitersprossen, die vom gleichen satten Rot waren wie ihre Wangen. Sie war ein Bild, wie immer.
Jetzt nahm sie die blaue Samtmütze ab, die sie trug, und strich ihr Haar zurück – und dann bemerkte sie ihn und drehte sich um, um ihn anzulächeln. Ihr Blick ruhte auf dem kleinen roten Apfel in seiner Hand.
»Jascha«, flüsterte er.
Er ging zu ihr hinüber und wünschte sich nichts sehnlicher, als sie noch einmal im Arm zu halten. Nur um zu wissen, dass sie noch so roch wie gestern, anders als die anderen. Dass sie noch immer zu ihm hielt.
Sie stieg von der Leiter und nahm ihm sanft den Apfel aus seiner Hand.
»Mein Jäger«, flüsterte sie, »lockst du deine gefährlichen Riesenhasen neuerdings mit Äpfeln an?«
Es war Joana.
Er musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Sie legte eine Handschuhhand auf seine Schulter und beugte sich noch näher zu ihm, und das Gesicht, das er dicht vor seinem sah, war Jaschas, und die Hand war Jaschas und der Körper unter dem blauen Mantel, selbst der Mantel war Jaschas Mantel. Es war unmöglich, einen Unterschied zu entdecken. In diesem Moment wurde ihm beinahe schwindelig von ihrer Ähnlichkeit.
Wir sind eins, im Lieben und im Hassen …
»Da draußen im Wald«, sagte sie leise, »läuft Branko herum und hat jede Richtung verloren. Ich habe ihn gesehen. Du hast ihn auch gesehen.«
Jari nickte. Also war es Joana gewesen, gestern, an der Schlucht. Er hatte sich so gewünscht, es wäre Jascha gewesen. Jascha hätte nie von ihm verlangt, was Joana verlangen würde.
»Du weißt, was Branko gesehen hat«, sagte Joana.
»Er wird nicht reden.«
»Reden? Branko kann gar nicht reden.« Sie lachte auf. »Aber Branko kann zeigen. Er kann jemanden herholen. Er hat nie verraten, wo wir wohnen und dass es uns gibt. Aber jetzt hat er Angst. Noch mehr Angst als früher. Er läuft durch den Schnee wie ein tollwütiger Hund, läuft im Kreis und spricht mit sich selbst. Ich habe es gehört.«
»Armer
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