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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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rutschte zurück, Jari halb in die Arme, und er hielt sie einen Moment lang fest. Aber schließlich standen sie oben und sahen über den weißen Wald hin. Er wirkte täuschend friedlich.
    Jascha setzte sich in den Schnee, und Jari setzte sich neben sie.
    »Du musst den Nebelwald verlassen«, sagte sie fest. »Das erste Hindernis, das du überwinden musst, bist du selbst. Das zweite ist die Klamm. Du darfst nicht durch die Klamm gehen.«
    »Nein?«
    »Du musst einen anderen Weg nehmen. Die Klamm ist nicht mehr sicher.«
    »Was ist dort?«
    Sie ließ seine Hand los. »Ich kann dir nicht alles sagen, ich … bin immer noch eine von ihnen. Vergiss das nicht. Du musst um die Klamm herumgehen. Es ist mühsam, es dauert lange, aber es ist möglich. Zu ihren Seiten steigen die Hänge an, sie sind steil, aber es gibt Wildwechsel dort, schmale Pfade. Du wirst Tronkes Skier nicht benutzen können. Du wirst lange unterwegs sein.«
    »Und – wenn ich in die andere Richtung fahre? Dorthin, wo Branko hingegangen ist?«
    »Das dauert noch länger, Jari. Und du kennst dich auch dort nicht aus. Vom Nebelwald bis auf die andere Seite des Gebirges ist es fast eine Woche. Für den Weg an der Schlucht vorbei, über einen der Steilhänge zum Dorf, brauchst du vielleicht zwei Tage.«
    »Das sind nur zwei Richtungen. Es sollte vier geben.«
    Sie lachte. »Ja, du kannst natürlich parallel zum Gebirgszug wandern. Dann bist du nach Süden ungefähr drei Wochen und nach Norden drei Monate lang unterwegs. Aber du bist ein Wanderer. Die Wahl steht dir frei.«
    Er fluchte. »Also an der Schlucht vorbei. Zwei Tage.«
    Sie nickte. »Ich werde dir den Weg zeigen.«
    »Du kommst mit? Bis dorthin?«
    »Bis dorthin und nicht weiter«, sagte sie.
    »Und – wann gehen wir? Jetzt? Jetzt gleich?«
    Da schüttelte sie den Kopf. »Nein. Sie werden nicht ewig malen, meine schönen Schwestern. Sie werden misstrauisch werden, wenn wir nicht bald zum Haus zurückkommen. Wir sind schon zu lange fort. Sie haben Skier wie ich, und sie sind schnell darauf, schneller als du. Sie würden unseren Spuren folgen und uns einholen. Und dann …« Sie verstummte. »Ich weiß nicht, was dann passieren würde. Nichts Gutes.«
    »Zwei gegen zwei.« Er klang wie ein Grundschüler, der sich auf einen Kampf im Schulhof vorbereitet. Matti und er hatten so gekämpft, Seite an Seite. Er konnte sich nicht an ihre Gegner erinnern. Es war vermutlich nur darum gegangen, zu kämpfen.
    »Zwei?«, fragte sie. »Du bist nur einer.«
    »Und du?«
    »Ich bin eine von ihnen. Vergiss nicht, wir sind eine Einheit.«
    Er schüttelte den Kopf. »Du bist nicht einmal selbst eine Einheit. Du weißt gar nicht, auf welcher Seite du stehst.«
    Sie legte die Handschuhe an die Wangen, wie um ihr Gesicht zu wärmen. »Vielleicht nicht«, wisperte sie. »Aber dennoch helfe ich dir. Ich helfe dir gegen meine eigene Natur. Verstehst du das?«
    Er hörte die Verzweiflung in ihrer Frage, und deshalb nickte er, obwohl er es nicht verstand, und legte einen Arm um sie. So saßen sie lange und schwiegen und sahen auf den Wald hinab, auf dessen verschneite Baumwipfel die Sonne Goldlichter tupfte.
    »Wir werden nachts gehen«, sagte Jascha schließlich. »Falls eine von ihnen aufwacht und nach mir sieht, werde ich in meinem Bett liegen und schlafen. Der Fuchs wird mir Gesellschaft leisten und Geräusche machen, sie werden mich atmen hören und mit den Decken rascheln im Schlaf. Ich werde eine Schneiderpuppe sein.«
    »Das ist ein riskanter Plan.«
    »Ja. Ich werde zurückkehren und ihnen am Morgen gestehen, dass ich dir geholfen habe. Dass ich dich fortgebracht habe.«
    »Aber …«
    »Dass ich dir den Weg gezeigt habe auf die andere Seite des Waldes, dorthin, wohin Branko sich gewandt hat. Jenen Weg, der länger dauert. Wir werden dich suchen, zu dritt, ich werde meinen Fehler bereuen … Aber wir werden dich nicht finden.«
    »Und dann?«, fragte er.
    »Dann – nichts. Dann wirst du weiterleben da draußen. Vergessen. Ich weiß, vergessen ist schwer, aber du wirst es schaffen, eines Tages.«
    »Und du?«
    »Mach dir um mich keine Sorgen«, flüsterte sie. »Ich gehöre zu den Dingen, die du vergessen wirst.«
    Er küsste sie wieder, dort oben, während der Wind im Felsen musizierte, und sie erwiderte seinen Kuss, sie suchte seine Wärme. Ihre Hände hielten ihn fest, ohne den Versuch zu machen, unter seine Kleidung zu wandern, sie behielt die Handschuhe an und auch alles andere, ihr beinahe klammernder

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