Solange die Nachtigall singt
noch mehr Leichen, ich weiß nicht, wie viele. Wer in den Wald eindringt und die Schönheit gefährdet, muss geopfert werden. Sie opfern alles für die Schönheit.«
Er hatte nichts sagen wollen zu Branko, gar nichts, nur abdrücken. Es hinter sich bringen. Und nun schneite es Worte aus seinem Mund.
»Die Schwestern, Branko. Sie sind wunderschön, aber sie sind nicht gut. Sie befehlen ihren Jägern, zu töten. Ich habe auch den Förster erschossen, Gunther Tronke.« Es tat gut, den Satz auszusprechen. »Er wollte helfen, beim Bau der Straße. Es darf keine Straße im Wald geben. Die Straße zerstört die Schönheit. Verstehst du?«
Branko schüttelte den Kopf.
»Ja«, sagte Jari. »Wenn ich ehrlich bin – ich auch nicht.« Und plötzlich lachte er, ein raues und hartes Lachen, kalt wie der Schnee, in dem Branko lag. »Keiner kann das verstehen, nehme ich an. Es hängt mit dem zusammen, was sie erlebt haben, denke ich. Steh auf.«
Branko erhob sich langsam. Die Mündung der Büchse lag noch immer an seinem Hals. Die hellen Schlieren in Brankos Augen erinnerten Jari an die Glasmurmeln, mit denen sie als Kinder auf der Straße gespielt hatten. Schon damals war Matti dabei gewesen. Er hatte genau solche Murmeln gehabt, blau mit weißen Schlieren. Sie hatten mit dem Finger Löcher in die Blumenbeete gebohrt, um ein Ziel für die Murmeln zu haben. Jari war besser gewesen im Zielen.
»Ein guter Schütze«, hatte Mattis Vater gesagt und gelacht.
»Du musst gehen«, flüsterte Jari. »Branko, geh! Lauf! Lauf aus dem Wald weg! Nicht in Richtung der Schlucht, in die andere Richtung, geh zu einem der Orte auf der anderen Seite. Und komm nie, nie wieder.« Er spürte, wie Branko schluckte, die Bewegung setzte sich auf seltsame Weise durch das Gewehr in seine Hand fort.
»Nie wieder?«, fragte er.
»Nie«, sagte Jari. »Wenn du wiederkommst, kann ich dir nicht mehr helfen. Ich werde ihnen sagen, ich hätte dich nicht gefunden. Geh und erzähl keinem, keinem da draußen, was du hier gesehen hast. Niemand darf das Steingrab in der Schlucht finden. Sonst bist du tot. Wie der Mann, den du in der Höhle gefunden hast damals.«
»Ja«, flüsterte Branko und nickte langsam. »Tot wie das in der Höhle. Blut. Zu viel Blut. Brankos Hände voll mit Blut …«
Dann drehte er sich um und ging. Jari wünschte, er wäre schneller gegangen, aber er sah erschöpft aus, der lange Rücken gebeugt. Besiegt. Er würde die Mädchen nie wiedersehen. Jari wusste nicht einmal, ob in seinem Kopf die Botschaft angekommen war, wer oder was sie waren.
Jari stand lange reglos neben dem umgestürzten Baumstamm.
So lange, bis er ein Geräusch hinter sich vernahm. Er fuhr herum. Durch den Wald näherte sich eines der Mädchen, ebenfalls auf Skiern. Sie brachte ihre Skier parallel zu Jaris und sah ihn lange an. Dann griff sie hinab und hob ihren kobaltblauen Mantelsaum an. Sie hob auch den Rock, zog die Strumpfhose mit dem winzigen Flockenmuster herunter und ließ ihn die Narbe an ihrem Bein sehen. Danach ließ sie die Kleidung wieder an ihren Platz fallen und lächelte.
»Jascha«, sagte er.
»Ja«, sagte sie. »Ich wollte, dass du weißt, wer ich bin, ehe ich ein Wort sage.«
»Und was ist das Wort, das du jetzt zu sagen gedenkst?«
Sie griff mit ihrer Handschuhhand nach seiner Handschuhhand. »Danke.«
»Danke?«
»Wer der Schönheit gefährlich wird, muss gehen«, sagte sie. »Branko ist gegangen. Auf seinen eigenen Beinen. Ich habe ihn gesehen.« Sie drückte seine Hand so fest, wie es durch die beiden Handschuhe möglich war. »Ich hatte Angst, du würdest es tun«, flüsterte sie. »Was Joana und Jolanda wollten.«
Er nickte. »Ich hatte auch Angst, dass ich es tun würde. Aber ich hatte noch einen Apfel in der Tasche. Ich habe an dich gedacht. Das hat geholfen.«
»Womit ich also einmal etwas Gutes getan hätte?«, fragte sie und wartete nicht auf seine Antwort. »Jolanda und Joana sind übrigens zu Hause. Maltag. Ich habe versprochen, in den Wald zu fahren und nachzusehen, ob du Branko gefunden hast. Du hast ihn nicht gefunden.«
»Nein. Er war schon zu weit fort. Aus dem Wald geflohen.«
Sie nickte. »Ja. Und noch einer wird fortgehen aus dem Wald. Wir müssen ein paar Dinge besprechen. Komm.«
Sie fuhr voraus, und er fuhr wieder in ihrer Spur, wie nachts. Sie führte ihn zum singenden Felsen, dessen Musik an diesem Tag wieder melodisch klang, und sie stiegen den schmalen Pfad gemeinsam hinauf. Einmal rutschte Jascha ab,
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