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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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gekommen?«
    »Ihretwegen«, flüsterte Jascha. »Falls sie aufwachen und aus dem Fenster sehen. Ich bin du in dieser Nacht. Sie haben nur dich gesehen. Jascha hat das Haus nie verlassen.«
    »Dann haben sie mich zweimal gesehen«, sagte Jari trocken. »Und beim ersten Mal in einer Regenjacke, die ihr längst fortgeworfen habt. Eine schlechte Tarnung.«
    »Dann ist das vielleicht nicht der Grund, aus dem ich deine Sachen trage«, wisperte sie.
    »Sondern?«
    »Ich habe deine Sachen schon einmal getragen, damals, am allerersten Tag, beim Holzhacken, weißt du noch? Ich wollte so gerne mit dir alleine bleiben, einfach so tun, als würden die anderen gar nicht existieren. Schon am ersten Tag. Die Antwort auf die Frage, warum, ist zu einfach für dich. Ich habe sie auf Birkenrinde geschrieben und ins Wachs eines Skis geritzt. Ich habe sie dir gesagt. Du glaubst mir nicht.«
    »Sag sie noch einmal«, bat er, und auf einmal sehnte er sich nach den kindlichen Worten, die er belächelt und beiseitegewischt hatte. Auf einmal sehnte er sich danach, ihr zu glauben. Jemandem zu vertrauen. Weich und nachgiebig zu werden, das harte, kalte Stahlherz des Jägers loszuwerden.
    »Ich …« Sie zögerte jetzt. »Ich liebe. Ich liebe dich. Und deshalb werde ich dir helfen, den Wald zu verlassen.«
    Er umarmte sie und war auf einmal ganz eingehüllt vom künstlichen Gummigeruch der Regenjacke, dem Geruch der verlorenen Welt.
    »Ich gehe nicht zurück«, flüsterte er. »Ich würde es nicht einmal tun, wenn sie mich ließen. Die Welt draußen … die Welt draußen gehört mir nicht mehr. Ich habe mein Handy gegen die Felsen geworfen, Jascha. Ich kann nicht zurückgehen, niemals.«
    »Doch«, wisperte sie. Ihre Wange lag jetzt an seiner. »Das kannst du! Ich sehe nicht zu, wie noch ein Jäger in den Tod geht. Du … du wirst es schaffen. Du bist anders als die anderen!«
    »Du wolltest mich schon einmal nach Hause schicken«, murmelte er in ihr schwarzes Haar. »Aber ich bin nicht in den Zug gestiegen.«
    »Nein«, antwortete sie, noch immer flüsternd. »Und ich habe es mir so sehr gewünscht! Ich wollte nicht, dass du verdorben wirst und verloren gehst wie die anderen Jäger. Aber natürlich habe ich mir auch gewünscht, dass du bleibst. Jari, bitte … du musst gehen. Ich helfe dir. Ich werde alles dafür tun, dass du hier rauskommst, ehe der Schnee es unmöglich macht. Ich weiß noch nicht, wie. Aber ich finde einen Weg. Versprich mir, dass du gehst.«
    »Ich bin ein Mörder. Ich kann niemandem draußen in die Augen sehen.«
    »Dann sieh woandershin«, sagte sie. »Da draußen gibt es so vieles, was man ansehen kann. Keiner wird je erfahren, was hier im Wald geschehen ist. Leute gehen hinein … und kommen nicht mehr heraus, das war schon immer so. Im Dorf hören sie die Wölfe heulen. Und sie kennen das Gerücht von der Bärin. Wenn je Leichen gefunden werden im Nebelwald, wird man sagen, die Tiere hätten sie gerissen.«
    Er umarmte sie noch einmal, denn es war gut, jemanden zu umarmen, der nichts anderes wollte, als umarmt zu werden. Das aber wollte sie sehr, er spürte es. Sie hielten sich lange, lange fest, mitten in ihrem Kinderherzen aus Äpfeln.
    »Und wenn ich dich jetzt küsse?«, fragte er.
    Sie machte sich los. »Nein. Darum geht es nicht. Mir nicht.«
    »Aber du hast mich geküsst, oder nicht? Am Tag der Fliegenpilze.«
    »Ja. Das war etwas anderes. Und sie haben hinterher mit mir geschimpft, weil es zu früh war.«
    »Zu früh?«
    »Es ist wichtig, die Dinge richtig zu dosieren«, flüsterte sie. »Nach und nach. Ist es dir nicht aufgefallen? Es ist alles ein Spiel, in dem man die Steine zum richtigen Zeitpunkt auf die richtigen Felder setzen muss. Hast du gedacht, die Dinge geschehen ohne Grund? Hast du gedacht, du hättest uns zufällig durchs Schlüsselloch beobachtet? Und Branko und Joana im Nähzimmer? Und Joana und Jolanda nackt oben am Fenster, an dem Tag, an dem du später Tronke … begegnet bist? Es war alles eine einzige große Inszenierung, Jari. Auch wenn Branko das natürlich nicht wusste, wir haben ihn nur benutzt. Wir haben uns interessant gemacht und dich eifersüchtig, ganz absichtlich. Wir haben dafür gesorgt, dass du wolltest, was du wolltest, und du bist ein Teil des Spiels geworden, verstehst du? Oder, wenn dir das lieber ist … eine Marionette. Du warst ja nicht der Erste. Es funktioniert immer.«
    »Aber dies … das Herz aus Äpfeln … das ist keine Inszenierung?«, fragte Jari,

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