Solange die Nachtigall singt
Branko«, murmelte Jari. »Er wird niemandem etwas zeigen.«
Sie nickte und streichelte seine Wange. »Ja, armer Branko.«
Jari machte sich von ihr los, ging zurück ins Haus und holte das Gewehr. Im Flur stand Jascha. Der Fuchs schmiegte sich an das Schneeflockenmuster ihrer Strumpfhose.
»Du nimmst das Gewehr mit?«
Er nickte.
Sie trat auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn, und er war sich nicht sicher, ob es Einbildung war oder ob der Geruch der Regenjacke noch an ihr klebte von der letzten Nacht.
»Pass nur auf, dass du nicht eines Tages jemanden verletzt«, wisperte sie. »Einen Verrückten zum Beispiel, der ungeschickt genug ist, dir vor die Büchse zu laufen …«
Jari ließ sie los und sah sie an. Die Ironie in ihrer ernsten Stimme war unheimlich und eiskalt.
»Und wenn ich sehr aufpasse und niemand verletzt wird, Jolanda?«, fragte er.
Sie lächelte. »Du machst Fortschritte darin, uns zu erkennen. Mein Jäger, unterschätz die Gefahren eines geladenen Gewehrs nicht! Es soll Leute geben, die sich selbst damit verletzt haben.«
»Ich dachte, er ist gesprungen, dein Wünschelrutengänger.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Woher weißt du das?«
»Ich weiß eine Menge«, sagte Jari und wandte sich zum Gehen. Aber natürlich war es dumm gewesen, die Sache mit dem zweiten Jäger zu erwähnen. Jolanda brauchte nur Joana zu fragen, um herauszufinden, dass nicht sie, sondern Jascha mit ihm gesprochen hatte.
Wir sind eins, hatten sie gesagt. Versuch nicht, einen Keil zwischen uns zu treiben . Der Keil, Jari wusste es, war schon lange da, er steckte tief im Fleisch der Dreieinigkeit. Und die beiden Älteren ahnten es.
Wo sollte er Branko suchen?
Er glitt auf den Skiern durch den Wald wie stets, lautlos, eine Eule auf den Schwingen einer ganz persönlichen Nacht. Jolandas Worte waren eine eindeutige Drohung gewesen. Er wusste nicht, was sie vorhatten, falls er Branko nicht beseitigte. Sie konnten nicht töten, aber sie waren Fallenstellerinnen, berechnend und unberechenbar. Sie waren schlau, viel schlauer als ihr zahmer Fuchs.
Jaris Augen brannten von unterdrückten Tränen, während er den Wald durchstreifte und Branko suchte. Wie konnten sie Branko töten? Töten lassen? Branko mit seinem schrägen Grinsen und seinen großen Händen? Branko hatte nie geahnt, warum sie die Jäger bei sich hatten. Er hatte ihnen die Geschichte mit den Wölfen abgenommen, hatte in seinem großen Kinderkopf an die Bärin geglaubt.
Und er wusste noch immer nicht, dass die Mädchen hinter dem Tod der Landvermesser steckten. Er hatte nur Jari gesehen, Jari, den Mörder. Er würde bis zum Schluss glauben, dass Jari der eigentlich Böse war. Jari stellte sich vor, wie er ihn ansehen würde. Vielleicht würde er die Hände heben, hilflos, seine geronnenen Augen flehend. Ehe sie für immer verloschen.
Und dann stand er da, ganz plötzlich, er trat aus einem Dickicht in Jaris Weg und blinzelte gegen die gleißende Wintersonne an.
»Branko!«, rief Jari.
Da erst schien Branko ihn zu erkennen. Seine Augen weiteten sich, er machte auf dem Absatz kehrt und rannte. Er rannte erstaunlich schnell, mit großen, weiten Schritten. Nie hatte Jari jemanden so schnell rennen sehen, nicht einmal den zweiten Landvermesser, der an der Schlucht entlang geflohen war. Branko kannte sich aus im Wald, er wusste, wo Jari die Skier hinderlich waren, schlüpfte durch dichten Tann und Gestrüpp – doch alles, was er erreichte, war eine Verzögerung.
Jari sah den umgefallenen Baumstamm, ehe Branko ihn sah. Branko stolperte und fiel der Länge nach in den Schnee. Er bremste in einer Wolke aus Pulverschnee. Branko versuchte aufzustehen, doch dann merkte er, dass die Mündung des Gewehrs seinen Hals berührte, und lag still.
»Ich-bin-ich-bin«, keuchte er.
»Ja«, sagte Jari. »Ich bin der Jäger. Der dritte Jäger.«
»Zwei … zwei in Schlucht, tot«, flüsterte Branko. »Jäger hat geschossen. Nicht mehr bewegt. Still, still, meine Nachtigall.«
Jari nickte. »So heißt es im Lied der Schwestern.«
»Alles eins«, sagte Branko.
Jari entsicherte das Gewehr.
»Branko«, sagte er.
»Zeisig«, sagte Branko. Er drehte den Kopf, um Jari anzusehen. In seinen Augen stand kein Flehen, keine Hilflosigkeit. Nur Unverständnis. »Warum?«
»Weil sie dich sonst selbst töten«, flüsterte Jari. »Sie sagen, sie können nicht töten, aber sie sind Fallenstellerinnen. Weil du gesehen hast. Die Leichen in der Schlucht gesehen. Verstehst du? Es gab
Weitere Kostenlose Bücher